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Sprachgebrauch

Meine Betrachtung scheint sich von ihrem Ausgangspunktezu entfernen, und doch hängen diese Fragen nach den Raum- und dem Verstande einerseits, nach dem Geistesleben der Taubstummen anderseits aufs engste damit zusammen, wie wir das Denken und wie wir das Sprechen definieren. Wenn wir es Denken nennen, daß das Kind sich nach dem Maßstabe seiner Sinnesorgane in der Außenwelt zurechtfindet, dann erweitern wir den Begriff Denken ins Ungemessene, dann kann sich die Qualle nicht ohne Denken im Wasser bewegen, dann kann sich die Pflanze nicht ohne Denken dem Lichte zuwenden, dann ist die Nahrungsaufnahme der Qualle wie der Pflanze ein Denkakt, dann ist nicht daran zu zweifeln, daß es ein Denken ohne Sprechen gebe. Und weil es nur dem allgemeinen Sprachgebrauche widerspricht, Atmen, Bewegung, Nahrungsaufnahme Denkakte zu nennen, weil wirklich eine fortschreitende Entwicklung besteht zwischen den Lebenserscheinungen der niedersten Tiere und den angestrengten Denkprozessen eines Philosophen, weil das Denken auch etwas wie eine Lebensäußerung ist, darum müssen wir uns hüten, den Begriff "Denken" als einen klar definierten Begriff anzusehen. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprechen und Denken wird so zu einem Wortstreit, wird abhängig von der Definition des Begriffs "Denken", die wir uns freilich bemühen müssen dem Sprachgebrauch anzupassen. Denn ohne den Versuch eines gemeinsamen Sprachgebrauchs, wenigstens eines Gebrauchs zwischen Autor und Leser, ist keine gemeinsame Seelensituation, ist keine Mitteilung möglich. Umgekehrt ist es nur eine Folge des Sprachgebrauchs, wenn wir die Lebensäußerungen eines intelligenten Taubstummen, der sich ohne künstlich gelernte Sprache dennoch recht gut in unseren Kulturverhältnissen zurechtfindet, ein Denken ohne Sprache nennen. Wir definieren den Begriff "Sprache" dann zu eng, um aus diesem Fehler den Schluß zu ziehen, daß Denken ohne Sprache möglich sei. So stehen sich die Vertreter beider Parteien wie in einem ergebnislosen Duell gegenüber; beide schießen aus blindgeladenen Pistolen und erschüttern nur die Luft, indem sie Worte aussprechen. Der Wind, der zwischen ihnen weht, leistet nicht weniger. Die Worte können mitunter ganz hübsche Bilder hervorrufen, wie z. B.: die Sprache sei das Kleid des Denkens, wie der Leib die Hülle der Seele sei. Aber auch der Streit über das Verhältnis von Leib und Seele ist ebenso ein Duell, in welchem die Gegner mit blindgeladenen Pistolen knallen.