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Denken und Wirklichkeit

Nicht zwischen der Sprache und dem Denken ist eine Brücke zu schlagen, sondern zwischen dem Denken und der Wirklichkeit. Wenn man sagt (eine gemeine Redensart), man finde für seine Gefühle keine Worte, so hat das gewöhnlich nur den Sinn, daß man den starken oder groben Ausdruck, den die Sprache bietet, aus irgend einer Rücksicht nicht gebrauchen wolle. Wo aber für Gefühle wirklich in der Sprache keine Worte sind, da ist das Gefühl von einem ungewohnten Eindruck erzeugt, da ist die Stimmung dieses Gefühls noch nicht eingeübt, noch kein Erbe der Menschheit geworden, da fehlt das Wort, weil die Erinnerung, weil das Bewußtsein von der Ähnlichkeit solcher Gefühle noch fehlt. So hatte die Sprache noch vor zweihundert Jahren keine Worte für Stimmungen des Naturgefühls (am Meere, im Gebirge), die heute jedem Schneider auf seiner Sommerreise geläufig sind. Die Beziehung zwischen dem Denken und der Wirklichkeit mangelt, nicht die Beziehung zwischen der Sprache und dem Denken. Ähnlich liegt der Fall, wenn wir sagen, daß wir bei einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung ein Wort erst suchen müssen. Der Vorgang ist alltäglich; bei jedem Satze dieses Buches kann es mir passieren, daß ich ein Wort suchen muß. Sehr häufig liegt da ein einfaches Vergessen vor, eine größere oder geringere Sprachstörung, die nicht gleich über die physiologische Breite hinaus in das Gebiet der psychischen Störungen gehören muß. Je nach der momentanen Geistesfrische tritt dieses sogenannte Suchen nach Worten seltener oder häufiger auf. Wo es aber auch in bester Arbeitsstimmung notwendig ist, für einen minderwertigen Ausdruck einen besseren zu suchen, das prägnante Wort zu finden, da wird nicht nachträglich zu dem Gedanken das Wort herbeigeschafft, sondern der Gedanke ist es, der nicht prägnant war. Und eine genaue Selbstbeobachtung hat mir gezeigt — was zu erwarten war —, daß dieses Forschen nach dem prägnanten Gedanken nichts anderes ist als die unaufhörlich wiederholte Bemühung, über das zuerst im Bewußtsein auftauchende Wort oder den Begriff hinüberzugelangen zu meinem Bilde von der Wirklichkeitswelt und auf diesem Wege zu prüfen, ob das sich mir zuerst aufdrängende Wort, ob der bereite Begriff meinem Bilde von der Wirklichkeit entspreche. Nicht auf meine Sprache besinne ich mich, wenn ich ein Wort suche, sondern auf meine Erkenntnis, das heißt auf mein subjektives Bild von der Wirklichkeit. Nur einen einzigen Fall gibt es, in welchem Wort und Gedanke noch nicht zusammenstimmen, nur einen einzigen Fall gibt es, wo wir das Wort zu unserem Gedanken erst suchen, weil wir es erst bilden müssen: das geschieht nur dann, wenn ein besonders gut veranlagter Kopf, wenn ein glücklicher Finder oder Erfinder etwas Neues gesehen, etwas Neues entdeckt oder beobachtet hat, wenn er also den Schatz der ererbten und erworbenen Erfahrungen durch ein Apercu zu bereichern im Begriffe steht. Dann freilich knüpft er die Erinnerung an die neue Beobachtung oder die neue Entdeckung an ein Wort, sei es durch Lautwandel oder Bedeutungswandel, das heißt an ein neugebildetes oder an ein bekanntes Wort. Dann ist aber unsere Erkenntnis der Wirklichkeit zunächst bereichert worden; die Erinnerung daran bereichert mit einem Schlage das Denken und die Sprache.

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