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Vernunft und Verstand

Halten wir trotzdem an der bequemen Unterscheidung fest, die zwar nicht allgemein der Sprachgebrauch, aber doch wissenschaftlicher Sprachgebrauch vieler Denker ist, an der Unterscheidung nämlich: daß Vernunft die in Begriffen oder Worten vollzogenen Denktätigkeiten zusammenfasse, Verstand aber diejenigen Denktätigkeiten, die jedesmal eine Orientierung in der gegenwärtigen Wirklichkeitswelt oder in der wirklichen Gegenwart bezwecken, so scheint es auf den ersten Blick allerdings tunlich, die Vernunft mit der Sprache zu identifizieren, den Verstand jedoch ohne Sprache arbeiten zu lassen. Da wäre eine hübsche Definition gewonnen oder angebahnt, wenn die Sache nur so einfach läge.

Es spielt aber bei dieser Unterscheidung von Vernunft und Verstand leider der alte Aberglaube an die personifizierten Seelenvermögen mit. Will man sich die ganze Unterscheidung vorstellbar machen, so sitzt doch irgendwo in der Residenz der menschliche Geist als Herrscher, und Verstand und Vernunft sind etwa seine beiden Minister für die äußere und für die innere Welt. Hat man nun den Geist mitsamt Vernunft und Verstand als etwas Gewordenes (besser: als ein Merkwort für ewig Werdendes, wie Geschichte das Merkwort ist für ewig Geschehendes) erkannt, als ein Wort für die sich entwickelnden Kombinationen der Daten aus den sich entwickelnden Sinnen, so verschieben sich die Ressorts dieser beiden Seelen vermögen gar seltsam.

Die Denktätigkeit in Worten oder Begriffen läßt sich dann immer noch mit der Sprache identifizieren; aber wenn wir die Sprache als das Gedächtnis der Menschheit erkannt haben werden, wird uns die Vernunft in diesem Sinne nichts weiter sein als die Anwendung des individuellen Gedächtnisses, welches das Gedächtnis der Menschheit ererbt und erworben hat. Die Physiologie, auch die neueste, läßt uns da im Stich. Man hat das Gedächtnis, hier das erworbene Individualgedächtnis, als die Disposition bestimmter Nerventeile definiert, wahrgenommene Sinneseindrücke wiederherzustellen. Das ererbte Gedächtnis muß ebenfalls so eine Art Disposition sein, die aber, als auf den Keim im Menschenei zurückgehend, doch wieder auf einer anderen Erbfolge beruhen muß als das erworbene Individualgedächtnis. Wie dem auch sei, kein Mensch hätte für sich allein genügende Erfahrungen gesammelt, um aus ihnen heraus das ungeheure Gerüst seiner Muttersprache (in deren latenten Klassifikationen all seine Welterkenntnis und all sein Schließen, also all sein Denken apriorisch steckt) aufbauen zu können; den weitaus größten Teil seiner Sprache, den er für erworbenes Gedächtnis hält, hat er ererbt; darum verwendet der Durchschnittsmensch seine Sprache auch so gedankenlos; denn von nichts gilt so sehr wie von der Sprache: "Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen." Es steckt also in dem Gebrauch der Muttersprache eine unverhältnismäßig große Masse von ererbtem, nicht erworbenem, nicht nachkontrolliertem Gute, das auf Treu und Glauben benutzt wird. Man könnte das in historisch-philosophischem Scherze auch so ausdrücken, daß der denkende Mensch nur erworbene Begriffe anwenden sollte, daß er aber unbewußt viel häufiger angeborene Begriffe ausspreche. Natürlich meine ich damit nicht die angeborenen Begriffe der älteren Psychologie, sondern das, was in unseren Alltagsworten an ererbten, nicht nachkontrollierten Klassifikationen und Abstraktionen steckt. Wem das klar geworden ist, der wird nicht daran zweifeln, daß wir, und wären wir Doktoren der Philosophie, Worte wie Pflanze, Tier, Himmel, Licht, Sprechen, Denken, Vernunft, Verstand, Leben, Tod, Gesundheit, Krankheit u. s. w. nur darum gebrauchen, weil wir sie ererbt haben, genau so, wie das eben ausgekrochene Küken das Körnchen aufpickt, wie die Amsel ihr Nest baut. Die noch unter dem menschlichen Verstande eingeordnete Denktätigkeit der Tiere nennen wir Instinkt; die über dem menschlichen Verstande klassifizierte Denktätigkeit in Worten nennen wir Vernunft. Wir haben aber jetzt schon in erster Andeutung erfahren, daß in dieser Vernunft eine Masse ererbter, nicht individuell erworbener, nicht nachkontrollierter, also instinktiver Denktätigkeit versteckt ist. Man wende mir jetzt nicht wieder ein, daß die Sprache noch etwas außer ihren Teilen sei, daß das Abstraktum Sprache etwas sei außer den Worten. Nimmt man von einem Gebäude alle Steine fort und alles andere Material, so kann ein Erinnerungsbild übrig bleiben, aber ein Gebäude ist nicht mehr da. Die Sprache an sich ist ein wesenloses Unding und kann immer noch, wenn es einem Spaß macht, dem Denken an sich gleichgesetzt werden.