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Denken

In der Wirklichkeit und in der Geschichte gibt es nun weder ein abstraktes Denken noch eine abstrakte Sprache. Zur Not gibt es da eine Summe von Vorstellungen einer ungefähr geschlossenen Menschengruppe, von Erinnerungen, Begriffen und Gewohnheiten, die wir wohl oder übel die Kultur eines Volkes nennen können; zur Not gibt es da die Summe von Worten und Wortformen, die wir die Sprache diesesVolkes nennen. Offenbar deckt sich Kultur und Sprache eines Volkes. Die Sprache ist das treue Spiegelbild der Kultur. Welche Stellung nimmt nun das Denken zwischen der Kultur und der Sprache eines Volkes ein? Was ist das Denken, wenn die gesamte Kultur die Wirklichkeit ist und die Sprache die Summe der Gedächtniszeichen dieser Wirklichkeit? Ein Australneger, der nie eine Eisenbahn gesehen und nie von einer gehört hat, besitzt das Wort nicht, weil er das Ding nicht kennt. Wie wäre ihm nun der Begriff Eisenbahn beizubringen? Unwillkürlich habe ich da anstatt eines Volkes ein Individuum gesetzt, einen einzelnen Australneger. Unwillkürlich, weil mir vorher nicht so deutlich wurde wie in diesem Augenblicke, daß ich bei Kultur und bei Sprache etwas Vorstellbares besitze, wenn ich eine Summe von Erscheinungen zusammenfasse, daß ich aber beim Denken unmöglich über die Vorgänge im individuellen Gehirn hinausgelangen kann. Wer sich nun damit begnügen wollte, mit Worten Fangball zu spielen, der könnte jetzt triumphierend ausrufen: die Sprache sei das gemeinsame Bewußtsein eines Volkes, etwas zwischen den Menschen, das Denken der persönliche Anteil eines jeden an diesem Bewußtsein. Das wäre vielleicht ganz hübsch gesagt.