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Verstand des Kindes

Viel tiefer dringen wir in das angeblich wortlose Denken des Kindes, wenn wir erfahren, daß das Kind sich ganz gewiß vor jeglicher Kenntnis der Sprache Raumbegriffe bildet, daß es schon nach wenigen Monaten im Räume Bescheid weiß, also sicherlich auf diesem Gebiete ohne Sprache denkt. Wir sehen aber sofort, daß hier wieder nur die Unzulänglichkeit der philosophischen Sprache an einer schlimmen Begriffsverwirrung die Schuld trägt.

Es ist nämlich in der Tat nach dem gegenwärtig geltenden Sprachgebrauche vollkommen richtig, daß auch unsere einfachsten Sinnesempfindungen, das heißt die sogenannten Nachaußen-projizierungen unserer Sinneseindrücke, nicht ohne unsere Verstandestätigkeit entstehen können. Descartes hat diesen Gedanken geahnt, Locke hat ihn vorausgesetzt, Kant hat ihn genial formuliert, Schopenhauer hat ihn überzeugend verteidigt und Helmholtz hat ihn durch populäre Darstellung zum Gemeingut der Halbgebildeten gemacht. Mit schärferer Terminologie als die anderen hat Schopenhauer unter den verschiedenen sogenannten Seelenvermögen gerade den Verstand zum Meister dieser Tätigkeit ernannt. Wer sich nun unter dem Verstande das göttliche oder halbgöttliche Wesen in unserem Kopfe vorstellt, welches im Dienste einer oberen Gottheit, der Seele nämlich, dem Denkgeschäft vorsteht, der ist in seinem Rechte, wenn er mit Preyer die Orientierung im Raum für einen Denkakt erklärt. Wir anderen aber, die wir nichts wissen, die wir den Begriff Verstand aus unserer Terminologie zu streichen schon fast entschlossen sind, wir sehen gerade aus der Schlußfolgerung solcher Kinderpsychologen, wie gefährlich es war, die Entstehung der Sinneseindrücke im Gehirn dem Verstand als einem besonderen Ressortminister zuzusprechen. Was wir davon wirklich wissen, das ist doch nur die negative Tatsache, daß unsere Sinnesorgane ohne ein Zentrum (ich sage "Zentrum" nur widerstrebend, mit schlechtem Gewissen; "Zentrum" ist auch nur so ein provisorisches Anstandswort für "Seele") ebenso ungeeignet wären, die WelIt wahrzunehmen, wie ein Mikroskop ohne das menschliche Auge. Wir halten es dann für wahrscheinlich, daß die von den Sinnesorganen aufgenommenen Empfindungenirgendwo im Gehirn sich assoziieren und daß aus der Regelmäßigkeit dieser Empfindungen und aus der Möglichkeit unserer Reaktionen das Zufallsbild der Welt entsteht, in welchem wir uns mit einiger Sicherheit bewegen. Niemand kann wissen, ob er dieses Zufallsbild der Welt nicht träume. Wenn aber der Verstand der göttliche Minister ist, der in unserem Kopfe denkt, so kann von ihm die Orientierung unserer Sinne nicht ressortieren; denn die Verarbeitung der Sinneseindrücke im Gehirn hat — nach psychologischem Sprachgebrauch — wenig mit dem zu tun, was wir sonst das Denken nennen. Fassen wir aber das Sehen, das Hören u. s. w. unter dem Begriff des Denkens zusammen, dann haben wir den Umfang dieses Begriffes phantastisch erweitert, als ob wir Kinder wären. Mir will es viel eher scheinen, als ob die ererbte Orientierungsfähigkeit, unsere Auffassung von den sichtbaren, hörbaren, schmeckbaren, harten und weichen, schweren und leichten Dingen u. s. w., also das Zustandekommen unseres Weltbildes in unserem Gehirn, d. h. die Anpassung der Wirklichkeitswelt an unsere vorher an die Wirklichkeitswelt angepaßten Sinnesorgane, weit mehr Ähnlichkeit hätte mit der instinktiven Thätigkeit unseres Atmens und der mit ihr verknüpften Herztätigkeit, wo auch bestimmte Nerven unter chemischen und wer weiß was für Einflüssen unser Leben erzeugen und erhalten. Denkt das Kind, wenn es sieht und hört, so denkt es auch, wenn es atmet.