Künste - Theorie der Sinnlichkeit


Die Theorie der Sinnlichkeit ist ohne Zweifel der schwerste Teil der Philosophie. Ein deutscher Philosoph hat zuerst unternommen, sie als einen neuen Teil der philosophischen Wissenschaften unter dem Namen Ästhetik, zu bearbeiten [s. Artikel Ästhetik]. Es ist zur Ehre der Nation zu wünschen, dass sie den Ruhm der Erfindung dadurch nicht vermindere, dass sie einem anderen Lande die glückliche Ausführung einer so wichtigen Wissenschaft überlässt, wodurch der Philosophie der Weg zur völligen Herrschaft über den Menschen gezeigt wird.

So viel verschiedene Wege in der Natur sind den Menschen durch sinnliche Vorstellungen zu erhöhen, so viel sind auch Hauptzweige der Kunst; und so vielerlei Gattungen und Arten der ästhetischen Kraft durch jeden Weg in die Seele können gebracht werden, in so viel Nebenzweige teilt sich jede Kunst. Wir wollen versuchen, ob nach diesen Grundsätzen ein allgemeiner Stammbaum der schönen Künste könne gezeichnet werden.

Überhaupt ist nur ein Weg in die Seele zu dringen, nämlich die äußeren Sinnen, aber er wird durch die verschiedene Natur dieser Sinne vielfach. Eben dieselbe Vorstellung oder derselbe Gegenstand scheint seine Natur zu verändern und ist in seiner Kraft mehr oder weniger wirksam, nach Beschaffenheit des Sinnes, wodurch er in die Seele dringt; die nötigsten Erläuterungen hierüber hab' ich an einem anderen Orte gegeben.*)

Die höchste Kraft auf die Seele, haben die niedrigern gröbern Sinnen, das Gefühl, der Geschmack und der Geruch, aber diese Wege auf die Menschen zu wirken, sind für die schönen Künste unbrauchbar, weil sie allein den thierischen Menschen angehen. Wären die schönen Künste Dienerinnen der Wollust, so müssten die vornehmsten Hauptzweige derselben für diese drei Sinne arbeiten und die Kunst, eine wohl schmeckende Mahlzeit zuzurichten oder Salben und wohl riechende Wasser zu machen würde den ersten Platz einnehmen. Aber die Sinnlichkeit, wodurch der Wert des Menschen erhöhet wird, ist von edlerer Art; sie muss uns nicht bloße Materie, sondern Seel und Geist empfinden lassen. Nur bei besonderen Gelegenheiten können die schönen Künste vermittelst der Einbildungskraft, die von gröbern Sinne abhängen den Empfindungen, zu ihrem Vorteile anwenden, ohne es eben so grob zu machen als Mahomet, der auf die Hoffnung sinnlicher Vergnügungen nur allzuviel gebaut hat.

Das Gehör ist der erste der Sinne, der Empfindungen, deren Ursprung und Ursachen wir zu erkennen vermögen, in unsere Seelen schickt. In dem Schalle kann Zärtlichkeit, Wohlwollen, Hass, Zorn, Verzweiflung und andere leidenschaftliche Äußerung einer gerührten Seele liegen. Darum kann durch den Schall eine Seele der anderen empfindbar werden und erst diese Art der Empfindung kann auf unser Herz erhöhende Eindrücke machen. Da fängt also das Gebiete der schönen Künste an. Die erste und kräftigste derselben ist die, die durch das Gehör den Weg zur Seele nimmt, die Musik. Zwahr wirken auch die redenden Künste auf das Ohr, aber seine Rührung ist nicht ihr Hauptzweck. Ihr Gegenstand ist von der unmittelbaren Sinnlichkeit weiter entfernt: aber der Klang der Rede ist eines der Nebenmittel, wodurch sie ihren Vorstellungen eine Beikraft oder einen stärkern Nachdruck geben. Die Hauptkraft der redenden Künste liegt nicht in dem Schalle, sondern in der Bedeutung der Wörter.

Nach dem Gehöre kommt das Gesicht, dessen Eindrücke jenen an Stärke zwahr weichen, aber an Ausdehnung und Mannichfaltigkeit sie übertreffen. Das Auge dringt ungleich weiter als das Ohr in das Reich der Geister herein; es kann beinahe alles, was in der Seele vorgeht, lesen. Das Schöne, das einen so vorteilhaften Eindruck auf die Seele macht, ist ihm fast in allen Gestalten sichtbar [s. Artikel Kraft. Schön]; aber es entdeckt auch das Vollkommene und das Gute. Was kann nicht ein geübtes Auge in den Gesichtern, in der Form, in der Stellung und Bewegung des menschlichen Körpers lesen? Diesen Weg zur Seele nehmen die zeichnenden Künste, auf sehr mannichfaltige Art, wie danach wird gezeigt werden.

Das Gesicht grenzt in vielen Stücken so nahe an das bloß Geistige (intellektuelle), dass die Natur selbst keinen Mittelsinn zwischen dem Gesichte und den innern Vorstellungen gelegt hat; oft sehen wir, wo wir bloß zu denken glauben, ohne uns des Eindrucks eines körperlichen Gefühls bewußt zu sein. Also ist für die Künste kein Sinn mehr übrig. Aber das menschliche Genie, durch göttliche Vorsehung geleitet, hat sich noch ein weit reichendes Mittel erdacht, in jeden Winkel der Seele hineinzudringen. Es hat Begriffe und Gedanken, die nichts körperliches haben, in Formen gebildet, die sich durch die Sinne durchschleichen, um wieder in andere Seelen zu dringen. Die Rede kann, vermittelst des Gehörs oder des Gesichts, jede Vorstellung in die Seele bringen, ohne dass diese Sinne sie verstellen oder ihr die ihrem Baue eigene Ge stalt geben. Weder in dem Klange eines Wortes, noch in der Art, wie es durch die Schrift sichtbar wird, liegt die Kraft seiner Bedeutung. Also ist es etwas bloß Geistiges in einer zufälligen körperlichen Gestalt, um durch die Sinne in die Seele zu dringen. Dieses bewunderungswürdigen Mittels bedienen sich die redenden Künste. An äußerlicher Kraft stehen sie den anderen weit nach, weil sie, wo es nicht zufälliger Weise geschieht, dass sie das Gehör erschüttern, von der Rührung der körperlichen Sinne keine Kraft borgen. Aber sie gewinnen an Ausdehnung, was ihnen an äußerer Kraft fehlt. Sie rühren alle Saiten der Einbildungskraft und können dadurch jeden Eindruck der Sinnen, selbst der gröbern, ohne Hilfe der Sinne selbst fühlbar machen.

Darum erstreckt sich ihr Gebrauch viel weiter als der, den man von anderen Künsten machen kann. Von allem, was uns bewußt, in der Seele vorgeht, können sie uns benachrichtigen. Von welcher Seite, mit welcher Art der Vorstellung oder Empfindung man die Seele anzugreifen habe, dazu reichen die redenden Künste allemal die Mittel dar. Dann haben sie noch über die anderen Künste den Vorteil, dass man sich vermittelst der wunderbaren Zeichen, deren sie sich bedienen, jeder Vorstellung auf das leichteste und bestimmteste wieder erinnert. Darum sind sie zwar an Lebhaftigkeit der Vorstellungen die schwächesten, aber durch ihre Fähigkeit alle Arten der Vorstellungen zu erwecken, die wichtigsten. Dieses sind die drei ursprünglichen Gattungen der Künste. Man hat aber Kunstwerke ausgedacht, in welchen zwei oder drei Gattungen vereinigt werden. Im Tanze vereinigen sich die Künste, die durch Auge und Ohr zugleich rühren; in dem Gesange vereinigen sich die redenden Künste mit der Musik und in dem Schauspiele können gar alle zugleich wirken. Darum ist das Schauspiel die höchste Erfindung der Kunst und kann von allen Mitteln die Gemüter der Menschen zu erhöhen, das vollkommenste werden [s. Schauspiele].

Jede Kunst hat wieder ihre vielfachen Nebenzweige, die vielleicht am füglichsten durch die Gattungen der darin behandelten ästhetischen Kräfte könnten bestimmt werden. So gibt es besondere Nebenzweige in jeder Kunst, wo bloß auf das Schöne gearbeitet wird. Dahin gehören alle Werke, die keine andere Absicht haben als den Geschmack am Schönen zu ergötzen. In der Dichtkunst artige Kleinigkeiten, in der Malerei Blumen - Stücke, Landschaften, die bloß schön, ohne bestimmten leidenschaftlichen Charakter; in der Musik Stücke, worin außer Harmonie und Rhythmus wenig Bestimmtes zu merken ist. Andre Nebenzweige arbeiten vornehmlich auf Vollkommenheit und Wahrheit, wie in redenden Künsten die unterrichtende Rede, das Lehrgedicht, eine Art der Ä sopischen Fabel und andere Arten. Noch andere Zweige bearbeiten vornehmlich einen leidenschaftlichen Stoff und bringen Leidenschaften in Bewegung. Dann gibt es noch Arten, wo alle Kräfte zugleich angewendet werden und diese sind allemahl die wichtigsten.

 Wie nun zu jeder Gattung nicht nur ein eigenes Genie, sondern auch eine besondere Gemütsfassung und eine eigene Stimmung der Seele erfordert wird; so könnte man vielleicht in dieser Stimmung, die der Künstler zu glücklichem Fortgange seiner Arbeit nötig hat, die Nebenzweige jeder der schönen Künste mit ziemlicher Genauigkeit bestimmen. Als ein Versuch hiervon kann das angesehen werden, was wir über die verschiedenen Gattungen des Gedichtes gesagt haben [s. Art. Gedicht]. 

Die äußerlichen Formen, unter denen die schönen Künste ihre Werke zeigen, haben so viel Zufälliges und zum Teil Willkürliches, dass auch die bestimmtesten Begriffe von der Natur und der Anwendung der Künste nicht hinlänglich sind, darüber etwas feste zu setzen. Wer wird, um nur ein Beispiel anzuführen, alle Gestalten bestimmen, in denen sich die Ode oder das Drama zeigen können, ohne ihre Natur zu verlieren? Man muss sich in solchen Untersuchungen vor Spitzfindigkeiten in Acht nehmen und auch dem Genie der Künstler keine Schranken vorschreiben [s. Werke der Kunst]. Auf diese Weise kann man die schönen Künste und ihre Zweige entdecken.

Das allgemeine Grundgesetz, wornach der Künstler sein Werk bearbeiten muss, kann kein anderes als dieses sein, »dass das Werk, sowohl im Ganzen als in seinen Teilen, sich den Sinne oder der Einbildungskraft am vorteilhaftesten einpräge, um so viel möglich die inneren Kräfte zu reizen und unvergeßlich im Andenken zu bleiben.« Dieses kann nicht geschehen, wenn das Werk nicht Schönheit, Ordnung und mit einem Worte, das Gepräge des guten Geschmacks hat. Der Mangel an dem, was zum Geschmacke gehört, ist wirklich der wesentlichste Fehler eines Werks der Kunst; aber nicht allemal der wichtigste.

Der allgemeine Grundsatz für die Wahl der Materie ist dieser: Der Künstler wähle Gegenstände, die auf die Vorstellungs- und Begehrungskräfte einen vorteilhaften Einfluss haben; denn nur diese verdienen uns stark zu rühren und unvergeßlich gefasst zu werden, alles andere kann vorübergehend sein.

Man würde diesen Grundsatz unrecht verstehen, wenn man ihn so einschränken wollte, dass die Kunst keinen anderen als unmittelbar sittlichen Stoff bearbeiten solle: er verbietet dem Künstler nicht, eine Trinkschaale oder etwas dieser Art zu bemalen; sondern befiehlt ihm nur, nichts darauf zu malen, das nicht irgend einen vorteilhaften Eindruck, von wel cher Art er sei, mache.

Den wichtigsten Nutzen haben die Werke der Kunst, die uns Begriffe, Vorstellungen, Wahrheiten, Lehren, Maximen, Empfindungen einprägen, wodurch unser Charakter gewinnt und die wir, ohne als Menschen oder als Bürger an unserem Werte zu verlieren, nicht missen können. Sollten aber dergleichen Dinge nicht statt haben, so hat der Künstler schon genug getan, wenn unser Geschmack am Schönen durch sein Werk befestigt oder erhöhet wird. Der Maler also, dem ich die Verzierung meines täglichen Wohnzimmers aufgetragen hätte, würde den besten Dank von mir verdienen, wenn er den Auftrag so ausrichtete, dass die praktischen Begriffe, deren ich am meisten bedarf, mir überall wo ich hinsehe, lebhaft in die Augen leuchteten. Geht dieses nicht an, so ist seine Arbeit auch dann noch lobenswert, wenn ich in jedem gemalten Gegenstand etwas erblicke, das meinen Geschmack am Schönen bestärkt oder erhöhet.

Hieraus erhellt auch, dass die schönen Künste nicht nur auf guten Geschmack, sondern auch auf Vernunft, auf gründliche Kenntnis des sittlichen Menschen und auf Redlichkeit seine Talente auf das Beste anzuwenden, gegründet seien.

 

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*) In der Theorie der angenehmen und unangenehmen Empfindung, gegen Ende des Abschnitts, in welchem von den Empfindungen der äußeren Sinne gehandelt wird. Es müsste aus dieser Theorie hierzu vieles angeführt werden, um das, was von der verschiedenen Wirksamkeit der Sinne zu merken ist, verständlich oder einleuchtend zu machen, darum setze ich hier voraus, dass der, welcher das, was hier vorgetragen wird, völlig fassen will, die angeführte Stelle erst nachsehe.


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