Wahl

Wahl. (Schöne Künste) Es ist zu einem vollkommenen Künstler nicht genug, dass er alle Talente und Fertigkeiten besitze, den Gegenstand, den er sich zu bearbeiten vorgenommen hat, auf das genaueste darzustellen; er muss auch den Wert des Gegenstandes und seine Tüchtigkeit in Rücksicht auf den Geschmack zu beurteilen wissen. Es gibt Gegenstände, die der Bearbeitung der Kunst nicht wert sind; und andere, die zwar nach dem inneren Wert schätzbar, aber so beschaffen sind, dass sie durch keine Bearbeitung zu Werken des Geschmacks werden können. Der Maler, der in der höchsten Vollkommenheit der Kunst einen Gegenstand malte, den kein Mensch in der Natur zu sehen verlangte, hat seine schätzbaren Talente so übel angewandt als jener Tor, der die Kunst gelernt hatte, ein Hirsenkorn allemal durch eine Nadelöhre zu werfen. In gleichem Falle wäre der Redner oder Dichter, der uns in den schönsten Worten und Perioden oder in den wohlklingendsten Versen und mit der höchsten Leichtigkeit des Ausdrucks, Sachen sagte, die kein Mensch hören möchte. Auf der anderen Seite würde der beste Künstler sich vergeblich bemühen, einen unästhetischen Stoff, zu einem Werk der Kunst zu bilden. Die an sich vortrefliche Geschichte des Herodotus in den schönsten Versen vorgetragen, würde, wie Aristoteles sagt, dennoch kein Gedicht sein.

 Hieraus folgt, dass der Künstler sowohl seinen Stoff überhaupt als jeden Teil desselben in einer doppelten Absicht zu beurteilen und zu wählen habe.

Einmal muss er darauf sehen, dass er keinen der Bearbeitung unwürdigen Stoff wähle.

 Man muss für alle Künste zur Hauptmaxime der Wahl machen, was Vitruvius von Gemälden sagt; sie seien nichts wert, wenn sie nur durch Kunst gefallen.1

 Hievon haben wir im Artikel Künste hinlänglich gesprochen und wollen unsere Künstler zum Überflus noch auf die gute Lehre verweisen, die Cicero dem Redner gibt.2 Hernach aber muss der Künstler auch überlegen, ob der Stoff überhaupt und jeder Teil desselben sich ästhetisch bearbeiten lasse, um ein Gegenstand des Geschmacks zu werden. Zu jenem wird Verstand und Beurteilung, zu diesem Geschmack erfordert. Mengs hat angemerkt, dass Albert Dürer die Kunst der Zeichnung eben so sehr in seiner Gewalt gehabt als Raphael

–– quæ Desperat tractata nitescere posse relinquit.

Der Künstler muss also nirgend leichtsinnig oder unbedachtsam, das erste, was sich seiner Vorstellungskraft darbietet, nehmen; sondern allemal mit Sorgfalt untersuchen, ob es das ist, was es sein soll, ob es schon in seiner natürlichen Beschaffenheit hinlängliche ästhetische Kraft hat und ob es so ist, wie der gute Geschmack es erfordert. Je mehr Beurteilung und Geschmack er hat, je besser wird er in beiden Absichten wählen.

 Noch ist bei der Wahl der Materie überhaupt auch darauf zu sehen, ob sie zu der besonderen Gattung des Werks, wofür sie dienen soll, bequem und schicklich sei. Es gibt Handlungen, die sich sehr gut zur Tragödie schicken und schlecht zur Epopöe und umgekehrt; Empfindungen, die man vortreflich in einem Lied und nicht wohl schicklich in einer Ode vortragen könnte. Ist der Stoff nicht nur überhaupt interessant, zur ästhetischen Bearbeitung tüchtig, sondern auch noch für die Form des Werks schicklich, so wird einem guten Künstler die Ausführung nicht mehr schwer werden.

–– cui lecta potenter erit res, Nec facundia deseret hunc nec lucidus ordo.

Die Dichter haben größere Sorgfalt bei der Wahl nötig: der Maler der übel gewählt hat, gefällt noch immer, wenn die Arbeit vollkommen ausgeführt oder wenn der Gegenstand vollkommen dargestellt ist. Nicht darum, wie Du Bos meint, weil es schwerer ist, gut zu zeichnen und zu malen als einen guten Vers zu machen; sondern deswegen, weil eine vollkommene Nachahmung der Ähnlichkeit halber Wohlgefallen erweckt.3 In so fern aber der Dichter schildern will, hat er eben den Vorteil, dass gute Schilderungen auch von schlechten Sachen gefallen, mit dem Maler gemein. Die Schilderung des alten Buches in Boileaus Lutrin gefällt gerade aus dem Grunde, warum eine vollkommen gemalte Kröte gefallen würde.

 Der eben angeführte Schriftsteller untersucht in einem besonderen Abschnitt seines vortreflichen und überall bekannten Werks über die schönen Künste4, was einen Stoff für die Dichtkunst und für die Malerei vorzüglich tüchtig mache. Aber er scheint diese Materie nicht in das helleste Licht gesetzt zu haben. Man kann die vorzügliche Brauchbarkeit eines Stoffs für jede Kunst durch das, was jeder Kunst wesentlich ist, genauer bestimmen. Für die Musik schickt sich nichts als Äußerungen der Leidenschaften; sie kann ihrer Natur nach weder Gedanken, noch sichtbare Gegenstände schildern.5 Für den epischen Dichter ist die Schilderung einer Szene, wo viel Menschen zugleich müssen beobachtet werden, wenn man den zweckmäßigen Eindruck davon haben soll, ungleich weniger schicklich als für den Maler; und die Aussicht, die ein Landschaftmaler vorzüglich wählen könnte, weil sie im ganzen übersehen die beste Wirkung tut, möchte sich sehr schlecht für den schildernden Dichter schicken. So hat jede Kunst etwas, das die Wahl des Gegenstandes bestimmen kann. Wir haben aber das, was wir hierüber anzumerken hatten, bereits teils in den Artikeln über besondere Künste, teils in denen über die besonderen Gattungen der Kunstwerke, bereits angeführt.

 

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1 Neque enim picturæ probari debent – si sactæ sunt elegantes ab arte. Vitr. L. VII. c. 5.

2 Sumendæ res erunt aut magnitudine præstabiles aut novitate primæ aut genere ipso singulares. Neque enim parvæ, nec usitatæ, neque vulgares admiratione, aut omnino laudis dignæ videri solent. Cic. in Brut.

3 S. Ähnlichkeit.

4 Reflexions sur la poesie & la peinture, sect. XIII.

5 Man sehe, was aus diesem Grund über die Wahl des Stoffs für die Oper, in dem Artikel Oper ist erinnert worden.

 


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