Kunstgriff

Kunstgriff. (Schöne Künste) Ein feines Mittel den Zweck zu erhalten oder eine Schwierigkeit zu heben, ohne eine notwendig scheinende Unvollkommenheit zuzulassen. Bei Verfertigung eines Werks von Geschmack können sich Schwierigkeiten von verschiedener Art zeigen, die sich nicht alle beschreiben lassen; daher sind auch die Kunstgriffe mannigfaltig. Der Künstler, dem es an Genie und Schlauigkeit fehlt, Kunstgriffe zu erfinden, wird selten glücklich sein. Eigentlich sind die Kunstgriffe da nötig, wo der gewöhnliche Gang der Kunst entweder nicht weiter reichen oder wo er natürlicher Weise in einen Fehler führen würde. Daher es zwei Hauptarten der Kunstgriffe gibt, solche, die durch ungewöhnliche Wege forthelfen und solche wodurch man den Fehlern aus dem Wege geht.

Von der ersten Art ist der Kunstgriff des Virgils das Elend der Andromache zu erheben. Er wollte das Mitleiden für sie aufs höchste treiben, aber geradezu konnte er sie nicht unglücklicher machen als sie nach unserer Empfindung schon war. Daher bedient er sich eines Kunstgriffs, dass er die Polyxena, deren Unglück das größte ist, was man erdenken kann, gegen sie als glücklich vorstellt.

 

O felix una ante alias Priameia virgo

Hostilem ad tumulum Troiæ sub mœnibus altis

Jussa mori.*)

 

Auf diese Weise hat auch Homer den Achilles ausserdem, was er geradezu großes von seinem Heldenmut sagt, erhoben, da er ihn immer weit über die Größten hervorragen lässt. Dahin gehört der von den Alten so gelobte Kunstgriff des Timanthes, der in dem Gemälde der Aufopferung der Iphigenia, den Menelaus das Gesicht unter dem Mantel verbergen lassen, weil er jede Art der Empfindung auf den anderen Gesichtern schon erschöpft hatte [s. Plin. Hist. Nat. L. XXXV. c. 10]. Auf diese Weise verfahren die Maler: wenn sie das Licht nicht höher treiben können und doch ein höheres Licht nötig haben; so verdunkeln sie das übrige und erhalten dadurch eine Erhöhung, die unmittelbar nicht zu erhalten war.

Als ein Beispiel eines Kunstgriffs der anderen Gattung, kann die Art angeführt werden, wie Euripides in der Phädra die heimliche Leidenschaft dieser Königin an den Tag bringt, ohne ihrem Charakter zu nahe zu treten und ohne die Wahrscheinlichkeit zu beleidigen. Er setzt voraus, dass sie sich vorgenommen habe, ihr Geheimnis mit sich ins Grab zu nehmen. Man hätte aber vorher aus ihren Reden schließen müssen, dass sie einen großen Hass gegen ihren Stiefsohn Hippolitus habe. Daher sagt die Hofmeisterin ganz natürlich, du wirst durch deinen Tod machen, dass der Amazonin Sohn über deine Kinder herrschen wird; sie tut noch einige verächtliche Worte über den Hippoli tus hinzu und dadurch verrät die Königin ganz natürlicher Weise, was sie für ihn fühlt. Hierbei hat Euripides den den Kunstgriff gebraucht, wodurch Eresistratus den Grund der Krankheit des Antiochus des Seleuci Sohn entdeckt hat [s. Plut. im Leben des Demetrius].

Der dramatische Dichter hat vornehmlich solche Kunstgriffe nötig, um die Auflösung des Knotens natürlich zu machen. Und es würde für die dramatische Kunst sehr vorteilhaft sein, wenn sich jemand die Mühe gäbe, aus den besten Werken die Kunstgriffe zu sammlen und deutlich an den Tag zu legen. In der Musik sind die enharmonischen Rückungen eigentliche Kunstgriffe, um schnell aus einem Ton in einen ganz entlegenen herüber zu gehen [s. Enharmonisch]. Die Malerei hat mancherlei Kunstgriffe die Haltung und Harmonie hervorzubringen.

Die wahren Kunstgrisse sind allemal ein Werk des Genies und nicht der eigentlichen Kunst; die ihre Erfindung nur erleichtert, indem sie die Anwendung und den Gebrauch dessen, was das Genie entwirft, möglich macht.

 

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*) Än. III. 321.


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