Zum Hauptinhalt springen

Dem Andenken Siegfried Brycks

Bei uns werden selten gute Berufsbücher geschrieben. Ich meine nicht: »Anleitung zum Karpfenfang in den südlichen Nebenflüssen der Donau« oder »Die Kriminalität in Postämtern von Städten unter fünfzigtausend Einwohnern«, sondern ich spreche von jenen Büchern, wie sie bei uns selten und in Amerika und England häufig sind. Da verbreiten sich Männer des praktischen Lebens klar und offen über ihren Beruf und vor allem über den Beruf, wie er hinter den Kulissen aussieht. Bei uns verbietet das die Würde und der betreffende Fachverband. Und wenn es denn doch einmal geschieht, dass einer wirklich aus der Berufsschule plaudert, dann kann man sicher sein, dass eine persönliche Stänkerei dahintersteckt und er einem Kollegen, einem Direktor, einer Firma eins auswischen will. Für solche Bücher gibt es ein untrügliches Kriterium: Wenn sie einen Außenstehenden interessieren, sind sie gut. »Par Fil Special« interessiert und ist gut.

Der Autor eines in Frankreich bekannten Buches »Historie d'une Marie«, André Baillon, hat das »Notizbuch eines Redaktionssekretärs« veröffentlicht: »Par Fil Special« (erschienen bei F. Rieder & Cie, Paris, 7 Place Saint-Sulpice). Hier liegt der für unsere Begriffe seltene Fall vor, dass jemand nicht aus Schmähsucht und nicht aus Lust am Skandal witzig und amüsant aus der Schule plaudert, also aus der Redaktion – sondern um der Sache willen.

Der moderne Humor ist kein Individualhumor mehr. Die Zeit, wo man »schrullige Typen« einer Kleinstadt abmalte, ist endgültig vorbei, und das befreiendste Lachen, das es heute gibt, ist soziologischer Natur: Bei den andern gehts also mit allen Einzelheiten ebenso zu wie bei mir, ich fühle mich im Innersten angesprochen, ich kenne das, bravo! Die harmlose Sorte dieses Humors offenbart sich in Straßenbahngeschichten, jeder ist einmal Fahrgast; in Arztgeschichten, jeder ist einmal Patient; in Bürokratengeschichten, jeder hat sich einmal vor einem Schalter halb krumm geärgert. Aber das ist ein wenig allgemein, und viel tiefer führt der Humor, wenn eine spezielle Berufsgruppe behandelt wird. Baillon hat sich eine große Tageszeitung vorgeknöpft, und das Herz hüpft einem im Leibe vor Freude.

Es ist nun ganz gleichgültig, wen Baillon gemeint hat und was alles an »Persönlichkeiten« hinter dem Buch steckt. Das interessiert uns gar nicht. Uns interessiert ganz etwas andres.

Was zunächst die Stellung eines französischen Redaktionssekretärs angeht, so ist zu sagen, dass es bei uns dergleichen kaum gibt. Der letzte große deutsche Redaktionssekretär, den ich noch gekannt habe, war Siegfried Bryck vom »Berliner Tageblatt«. Dieser merkwürdige und nach mehr als einer Richtung hin einzigartige Mann versah so etwas wie den Posten eines »geistigen Bezirksfeldwebels«, sofern dies keine contradictio in adiecto ist, denn er hatte alles von einem geistigen Menschen und gar nichts von einem Feldwebel. Aber er war so der Macher vons Ganze. Bryck schrieb nicht, bewahre. Nie hat ihn jemand eine Zeile schreiben sehen. Aber er war einer der besten Umbruchredakteure, die die deutsche Presse je gehabt hat. Ein Mensch, der die Mitarbeiter anregte, stoppte, bändigte; der Nachrichten hervorlockte, Unstimmigkeiten beseitigte, dem Blatt ein Gesicht gab und immer die beste Überschrift zu jedem Telegramm aus dem Ärmel schüttelte. Im übrigen besorgte er alle Arbeiten, die eigentlich die andern hätten erledigen sollen. Daß er die Zeitung nicht auch noch druckte, lag nur daran, dass er zu dick war. Das also ungefähr ist ein Redaktionssekretär.

Das Buch Baillons hat ein Vorwort, das ich hier wiedergeben will, weil es gar keine bessere Charakteristik dieses »Tagebuchs eines Redaktionssekretärs« gibt.

»Sinet ist bei derselben Zeitung Sekretär vom Tagdienst, bei der ich den Nachtdienst habe. Er weiß, daß ich ein Buch über den ›Bau‹ schreibe. Er sagt: ›Man muß nicht in den Napf spucken, aus dem man ißt.‹ – ›In den Napf, Sinet! Wer sagt Ihnen, dass ich reinspucke?‹ – ›Na … !‹ Schritte. Und da ist die Unterhaltung dann stehengeblieben.« –

Nach einer kurzen Einleitung, in der man erfährt, wie Baillon zu der Stellung eines Redaktionssekretärs gekommen ist, gehts los: »Notre journal.« Die Schilderung strahlt vor Frechheit. Ach, und wie ist uns das alles vertraut! Er zählt auf, was es alles bei der Zeitung gibt: Büros, Geldschränke, Teppiche in den Empfangsräumen … »Es gibt Ressorts: die Verwaltung, die mit der Redaktion auf Kriegsfuß lebt, die Direktion, im ewigen Krach mit der Redaktion und der Verwaltung; die Expedition, die zankt sich mit der Verwaltung, der Redaktion und der Direktion.« Und: Es gibt Sachen, die es nicht gibt: »Zündhölzer, wenn man Feuer haben will; ein Buch, in dem noch alle Seiten da sind; eine Überzeugung; ein Kollege, der wirklich kollegial wäre; kleine Vögel, die singen … « Worauf sämtliche Personen einer Zeitung, seiner Zeitung, also aller Zeitungen durch einen guten Friedenskakao gezogen werden.

Die ewige Sorge um die Nachricht, um die Information. »Ein Bankier braucht nötig eine Million: er träumt, er habe eine Goldmine entdeckt. Er begibt sich in den Verlag; er bezahlt. Daß er bezahlt hat: das ist keine Information. Daß er geträumt hat, ist auch keine.« – »Der Bankier hat eine Mine entdeckt. Sehen Sie, das ist eine Information!«

Denn es muß bemerkt werden, dass die Abhängigkeit der großen Zeitungen von den Wirtschaftskräften des Landes in Frankreich viel offener zugegeben und auch in diesem Buche viel freier glossiert wird, als das bei uns möglich wäre. (Ich halte dunkle Beeinflussung allerdings für gefährlicher als blanke Korruption.) Im übrigen ist alles wie bei uns: vor allem die Hauspolitik eines Blattes. »Dies kann man sagen oder nicht sagen. Jenes muß man sagen. Das eine kann man unter keinen Umständen sagen. Das andere kann man nicht sagen. Also kann man nicht anders … sagen … nicht sagen … « Die Mitarbeiter wissen nicht, das Publikum weiß erst recht nicht, der Sekretär weiß.

Und weil die französischen Zeitungen und Betriebe noch weniger amerikanisiert sind als die deutschen, so sieht das Archiv der Zeitung so munter und schäbig aus, wie ich es in deutschen Redaktionen auch schon angetroffen habe.

Und als ob ich zu Hause wäre, lese ich diese Schilderungen: Wie man nicht ins Sekretariat gehen darf, ohne angebullert zu werden; wie der sündige Redakteur auf die Direktion zitiert wird (der Direktor zum Besucher: »Bitte setzen Sie sich! Wollen Sie lieber diesen Sessel? Der ist weicher, da sitzen Sie besser!« Zum Redakteur: »Setzen Sie sich!«); wie kein Gespräch zu Ende geführt wird, ohne dass an der wichtigsten Stelle das Telefon klingelt und der Audienzerteilende den Besucher stumm und dumm sitzen läßt; und eine der himmlischsten Stellen des Buches: die Geschichte mit den alten Jahrgängen.

Im Direktionszimmer steht die ganze Zeitung nach Jahrgängen gebunden. Erster Jahrgang. Einfache Überschriften, ruhige Spalten. Ein Minister ist gestürzt, man meldet: Ein Minister ist gestürzt. Ein Verbrechen: fünf Zeilen. Sicherlich gab es damals schon Frauenschänder: nichts von Schändern. Hingegen, sehen Sie sich diesen Artikel an: »Die Lage in Europa.« Voll von Ideen. Die Leiter hatten welche. Ich erinnere mich nicht mehr genau, was es für welche waren, aber es war irgend etwas mit Bonheur Social. Da wieder Ideen: in diesem Artikel, in jenem. Und dann schöne Versprechungen: unter allen wie immer gearteten Umständen die Wahrheit sagen … ! Keine Kompromisse schließen … ! Und dann dieses murksige Format! Dieses dünne, kleine Papier! Wer mag das wohl gekauft haben? Zweiter Jahrgang. Dritter Jahrgang. Guck an! Sieh, sieh! »Das Verbrechen in der … Straße!« Dicke Überschrift. »Das Mysterium der Frau ohne Kopf«, »Das Bild eines Meisterschwimmers«, »Die Fotografie eines gestohlenen Kolliers«, »Eine Vergewaltigung« (zehn Zeilen). Ideen, wo seid ihr? Das Format ist großer geworden, und für die Ideen ist weniger Platz vorhanden. Überspringen wir ein paar Jahrgänge. Siebenter Jahrgang. Oh, ah! »Laster!« – »Blut!« »Mord und Totschlag!« (Das geht auf eine Vergewaltigung.) Noch ein »Mysterium der Frau ohne Kopf« (drei Spalten). Hier ein Wettfahrer im Trikot; ein Boxer; aus Versehen auch das Bild eines Gelehrten. Gemeinplätze über die internationale Lage. Die übliche offizielle Sauce. Früher hätte man das politisch gepfeffert. Aber hier kommt alle Welt auf ihre Kosten. Und das große Format! Das glänzende Papier! Und so viel Seiten! Und unter dem Kopf: »Die größte Auflage aller Blätter!« Und das ist wahrscheinlich das einzige, was keine Lüge ist. Ist das nicht die Entwicklung aller großen Zeitungen?

Herrlich die Schilderung der Chefs. Natürlich sind es zwei. Wenn irgend etwas passiert: »Ich würde ja furchtbar gern … Aber da muß ich erst mit meinem Sozius … « Und dann diese Stelle, die ich mir gar nicht allein gegönnt habe: »Ils se plaignent.« (»Ils« sind die Chefs.) Sie beklagen sich: »Unsere Leute arbeiten nicht genug. Was tun wir? Wir leben von morgens bis abends für unser Blatt.« – »Na, gewiß doch«! setzt Baillon hinzu; »es ist ihr Blatt, nicht unsers.« –

Und so zieht das vorbei: dumme Besucher und gerissene Besucher, alte Abonnenten, die alles wissen wollen, und Kritiker, die alles besser wissen, junge Kollegen, die Ehrgeiz, und entlassene Kollegen, die Hunger haben, und der Mann, der die faits divers macht. Manchmal irrt er sich … Ausrede: »Que voulez-vous? Il faut que les lecteurs sachent.« Und wie schnell alles gehen muß! Und wie es in letzter Minute nicht so darauf ankommt und wie es erstens gleichgültig ist und es zweitens doch keiner merkt. Und wie über allem, ungeschrieben, die große Zeitungssentenz steht: »Das Publikum ist noch dümmer.«

Ein himmlisches Buch. Deshalb so entzückend, weil es wirklich einmal Türen, Klappen und Fenster aufmacht und weil es wirklich einmal den Beruf so zeigt, wie er ist. Baillon ist kein Zyniker. (Man findet unter österreichischen Journalisten sehr häufig den Typus des Zeitungsschreibers, der über sich selbst, aus Reue und Rückversicherung, Pech und Schwefel regnen läßt; unangenehme Kunden, denen man nicht einmal ihre Unanständigkeit glaubt.) Baillon ist kein Zyniker, sowenig wie Siegfried Bryck einer war. Bryck war nicht kaltschnäuzig-frech, sondern ein Mann der wußte. Der hinter die Dinge und Menschen gesehen hatte, und dem man nun gar nichts mehr erzählen konnte. Aus dieser Ecke heraus ist auch das Buch »Par Fil Special« geschrieben. Es zeigt das Wesen der Presse, und es lehrt noch ein andres.

Es zeigt die gradezu verblüffende Egalisierung der Welt. Weil die ökonomischen Bedingungen aller Gesellschaftsordnungen (mit Ausnahme der primitiven Stämme und Rußland) auf der ganzen Welt die gleichen sind, deshalb beeinflussen sie mit genau der gleichen Wirkung auf das schwerste und tiefste: Gefühle, Stimmungen, Wünsche und die Arbeit des Tages. Rasse und Bodenbeschaffenheit, Tradition und Geschichte färben nur, die Zierate ändern sich, die Fassaden sind verschieden.

Drin aber, im Zimmer, sitzt überall, in allen Ländern, auf allen Kontinenten ein Mann, der Bescheid weiß. Er blättert die ersten Jahrgänge seiner Zeitung auf und lächelt.

Peter Panter
Das blaue Heft, 01.12.1924, Nr. 5, S. 127.