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Wucher

Wucher, ursprünglich die Ausbeutung durch unerlaubte Zinsgeschäfte, wird seit dem Teuerungsjahr 1847 zum leidenschaftlichen Schlagwort gegen die verhaßte Spekulation in Lebensmitteln, zumal in Getreide. Darüber unterrichtet eine Schlesische Korrespondenznachricht vom April dieses Jahres ausführlich, die sich im Stuttg. Morgenblatt S. 399 f. findet: „Wie eine vielköpfige Hyder streckt der Wucher mehr als jemals das gierige Haupt über Stadt und Land, wo die Spekulation mit der Macht des Kapitals alle natürlichen Grundlagen des Erwerbs verschoben oder gar zertrümmert hat, wo unter den anarchischen Verhältnissen desselben die natürlichen Bedingungen der allgemeinen Existenz nicht länger zugestanden sind und die Gesellschaft auf einen künstlich vulkanischen Boden gestellt ist.“ Dann wird der verderbliche, die Waren stark verteuernde Zwischenhandel nachdrücklich gegeißelt, den eine Reihe Spekulanten durch Aufkaufen der Wochenmarktsprodukte betreiben. „Diese neue Seite des allgemeinen Wuchers … — verdient wohl weit mehr eine gesetzliche Verhütung und Bestrafung als der Geldwucher.“ Der Begriff wird aber sofort noch weiter ausgedehnt, nämlich auch auf die Verhältnisse der Industrie. Vgl. S. 404: „Das aber ist der schlimmste Wucher, den die Macht des Kapitals nun auch bei uns in Deutschland geboren hat, dass die Arbeit so tief entwertet ist, als die Konkurrenz es nur möglich macht. Es muß, es kann dieser Wert wieder hergestellt werden, wenn das Gesetz gegen den Wucher nicht mehr, wie bisher, eine einseitige Anwendung wegen der Höhe des Zinsfußes bei Geldanleihen findet, sondern überall, wo seine Natur es mit sich bringt.“ Dann müßten vor allem so große Mißverhältnisse in den Existenzmitteln der Gesellschaftsklassen verhütet werden, dass dem Staat keine Gefahr erwachse.

Wenn also die Grenzboten im gleichen Jahre 2. Sem. 4, 548 f. in der Polemik gegen dieses Schlagwort schreiben: „Nennt man Spekulation im Getreide „Wucher", so muss man auch Spekulation in anderen Artikeln „Wucher“ nennen,“ dann war diese Erweiterung bereits geschehen. Daraus ergab sich eine Fülle von Zusammensetzungen, die später zum guten Teil in den eisernen Bestand sozialdemokratischer Trümpfe eingingen, z. B. Brotwucher, Fleischwucher, Kohlenwucher usf. Vgl. auch Sanders, Ergb. S. 655, der übrigens in seinem Wörterbuch 3, 1666 b zeigt, dass verwandte Wortbildungen bereits seit Jahrhunderten nachweisbar sind, aber freilich ohne die schlagwortartige Kraft.