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"Die Sprache"

Was aber ist die Sprache, die aufmerksam zu beobachten ich mir vorgenommen und den Lesern versprochen habe? Ich will ja nicht wie der Verfasser eines Wörterbuchs auf die ein/einen Worte einer bestimmten Sprache achten; ich will nicht wie ein Grammatiker die verschiedenen Formen einer einzelnen Sprache gruppenweise zusammenstellen. Aber auch die Geschichte einer einzelnen Sprache will ich nicht schreiben, ebensowenig die Geschichte einer Sprachfamilie, wie sich das die vergleichende Sprachwissenschaft, zuerst für unsere eigene "Sprachfamilie" und dann für alle Sprachen der Erde, zur unlösbaren Aufgabe gestellt hat. Ich will doch offenbar dasjenige untersuchen, was den Sprachen der Menschen gemeinsam ist, was man hübsch abstrakt etwa das Wesen der Sprache nennen kann. Da fällt es zuerst auf, daß "die Sprache" in diesem Sinne etwas ganz anderes bedeutet als "eine Sprache" oder "die Sprachen", wobei man schließlich zur Not an etwas Wirkliches denken kann, wenn dieses Wirkliche auch nur, weil es ein flüchtiger Schall ist, kaum zu den materiellen Dingen gerechnet werden darf. Doch welches Wirkliche wäre am Ende mehr als flüchtige Form? Ich lasse mich dabei auf gar keine Spitzfindigkeiten ein. Wenn man die architektonischen Denkmäler und die versteinerten Überreste der Urwelt eine Sprache genannt hat, in welcher die Vorzeit der Kultur oder der Natur zu uns spricht, so ist das ein bildlicher Ausdruck. Wenn man an die Hieroglyphen und an die Keilschrift erinnert. wo irgend ein altes Volk nur noch durch Schriftzeichen, also nur durch sichtbare Zeichen zu uns zu reden sucht, so würde doch jeder solchen Sprache, falls sie wirklich enträtselt wäre, eine gesprochene Sprache zu Grunde liegen. Selbst die sichtbare Fingersprache unserer Taubstummen ist ja doch nur eine den Verhältnissen angepaßte sichtbare Fixierung einer Volkssprache und weist auf eine gesprochene Sprache ebenso zurück wie unsere gewöhnliche Schrift. Es gehört in einen anderen Gedankengang — was freilich die Zusammengehörigkeit der Tatsachen nicht ausschließt — daß wir Büchermenschen durch unaufhörliche Übung des Lesens es so weit bringen können, die gesprochene Sprache in unserem Bewußtsein auszuschalten; unbewußt arbeitet jedoch das sogenannte Zentrum der hörbaren Sprache auch beim Lesen des Büchermenschen mit.

Die einzelnen Sprachen sind also die außerordentlich komplizierten Lautgruppen, durch welche sich Menschengruppen miteinander verständigen. Was aber ist "die Sprache", mit der ich es zu tun habe? Was ist das Wesen der Sprache? In welcher Beziehung steht "die Sprache" zu den Sprachen.

Die einfachste Antwort wäre: "die Sprache" gibt es nicht; das Wort ist ein so blasses Abstraktum, daß ihm kaum mehr etwas Wirkliches entspricht. Und wenn die menschliche Sprache als "Werkzeug" der Erkenntnis, wenn insbesondere meine Muttersprache als Werkzeug auch zuverlässig wäre, so müßte ich den Versuch dieser Kritik von vornherein aufgeben, weil dann der Gegenstand der Untersuchung ein Abstraktum, ein unwirklicher und unfaßbarer Begriff ist. Damit stehe ich vor dem ersten betrübenden Dilemma. Nur wenn die menschliche Sprache und insbesondere meine Muttersprache nicht zuverlässig und nicht logisch ist, nur dann werde ich hinter dem äußersten Abstraktum "die Sprache" noch etwas Wirkliches entdecken; dann aber werde ich wegen der Unzuverlässigkeit des Werkzeugs die Untersuchung nicht so gründlich vornehmen können, wie ich möchte. Da ich aber diese Eingangssätze nicht tatsächlich am Anfang meiner Beobachtungen abfasse, sondern nach jahrelangen Mühen, so weiß ich schon, daß dieses betrübende Dilemma mich von Schritt zu Schritt verfolgen wird.

Welchen Sinn das Abstraktum "die Sprache" habe, das wird etwas deutlicher werden, wenn wir vorerst erfahren haben, wie abstrakt und unwirklich eigentlich dasjenige ist, was wir eben vorläufig mit gutem Glauben als etwas Wirkliches hingenommen haben: die Einzelsprachen. Was sind diese Einzelsprachen, die das Objekt der Sprachwissenschaft abgeben, der blutjungen Wissenschaft, die in diesem Jahre (1896) 80 Jahre alt geworden ist? Wenn man bedenkt, daß diese Wissenschaft es sich zur Aufgabe gestellt hat, die verschiedenen Sprachen der Menschen nach Stämmen, Völkern und dann wieder nach Mundarten u. s. w. zu sondern, so muß man anerkennen, daß die Sprachwissenschaft nur vorläufig und mit Vorbehalt von den Einzelsprachen ausgehen darf. Ihr Gegenstand ist vielmehr die ungeheure Masse aller menschlichen Laute, die jemals irgendwo auf der Erde von Menschen zum Zwecke der Verständigung gesprochen oder geschrieben worden sind. Die Sprachwissenschaft hat sich die Aufgabe gestellt, diesen ungeheuren Vorrat nach Worten und nach Bildungsformen, sodann oder vorher nach näherer und weiterer "Verwandtschaft" zu ordnen. Die volkstümliche Abgrenzung nach Volkssprachen und nach Mundarten dient, wie gesagt, nur zur vorläufigen Orientierung. Es kann eines Tages entdeckt werden, daß die Sprache der alten Inder der unseren nahe "verwandt" ist; es kann wieder einmal entdeckt werden, daß die niederdeutsche Mundart der hochdeutschen Sprache ferner steht, als der plattdeutsch redende Mecklenburger wohl glaubt. Auf dem Gebiete der ostasiatischen Sprachen gehören solche Überraschungen zu den alltäglichen Ereignissen.