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Hypothesen

Und nun frage ich einen aufmerksamen Leser, ob die Geschichte der technischen Ausdrücke in den Wissenschaften gar so sehr verschieden sei von der Geschichte dieser technischen Ausdrücke der Industrie. Man muß nur festhalten, dass es da und dort eine Hypothese ist, welche geglaubt wird und das neue Wort einführen hilft. So zungenbrecherisch die Lautgruppe auch sein mag, wir behalten sie im Gedächtnis und in der Übung, solange wir an die Hypothese glauben, das heißt an das Urteil, welches im Worte enthalten ist. Solange die Medizin für eine Wissenschaft gilt, werden die technischen Ausdrücke der Medizin einen hübschen Übergang bilden zwischen den technischen Ausdrücken der Industrie und denen der Wissenschaft. Um mir weit ausholende Auseinandersetzungen zu sparen, will ich die Bezeichnung Rheumatismus nicht zum Beispiele wählen, obgleich es ein gutes Beispiel wäre. Es steckt eine Hypothese dahinter. Da haben wir aber ein Volksheilmittel gegen Rheumatismus, das mit dem ganz barbarischen Namen Opodeldok (aus dem Englischen zunächst in die internationale Apothekersprache übergegangen) unbedingt der Umgangssprache angehört. Die Herkunft ist unbekannt, es findet sich schon bei Paracelsus. Es ist auf Grund der Hypothese des Nutzens eingeübt. Man vergesse niemals, dass hinter jedem Worte alle Urteile stecken, die in seinen Merkmalen liegen. Alle diese Urteile sind ja Hypothesen. Die alten, oft veralteten, oft vergessenen, jedesfalls unbewußt gewordenen Hypothesen stecken in den Worten der Umgangssprache. Die neuen Hypothesen stecken in den technischen Ausdrücken. Können sich die neuen Hypothesen nicht erhalten, so verschwindet der technische Ausdruck wieder und bleibt nur in der Geschichte einer bestimmten Wissenschaft erhalten. Wird die Hypothese Gemeingut, so geht der technische Ausdruck in die Umgangssprache über. Regeln über die Gestaltung der technischen Ausdrücke lassen sich nicht aufstellen. Aber namentlich die von Eigennamen genommenen Worte sind sehr lehrreich für den Instinkt, mit welchem die Sprache die neuen Hypothesen behandelt.

Da wurde eines Tages beim Legen des transatlantischen Kabels ein gallertartiger Schleim, der aus der Meerestiefe kam, beobachtet, von Huxley beschrieben und Bathybius Haeckelii benannt. Bathybius vertritt einen griechischen Satz, der "was in der Tiefe lebt" bedeutet. Der technische Ausdruck war also eigentlich eine ausführliche Beschreibung, die für den Kundigen den Sinn hatte: "Ein Lebewesen aus der Meerestiefe, dessen verwandtschaftliche Beziehungen zum Tierreich wir uns nach den Lehren Haeckels erklären." Man sieht, in dem Genetiv Haeckelii war auf eine Hypothese Bezug genommen. Hätte sich das alles bestätigt oder wäre die Bathybiusmasse z. B. ein Volksnahrungsmittel geworden, die Umgangssprache der Kulturvölker wäre um das Wort Bathybius vermehrt worden. Es vergingen aber keine zwanzig Jahre. da behaupteten andere Gelehrte, das neue Ding, der Bathybius Haeckelii, sei nur ein Zufallsprodukt, ein Niederschlag aus der Vermischung von Seewasser und Alkohol. Das Wort mußte mit der Hypothese verschwinden.

Da beschrieb vor kurzem Professor Röntgen eine neu entdeckte Art von Strahlen, die er als eine besondere Sorte von Kathodenstrahlen einführte. Monatelang spukten die Kathodenstrahlen durch alle Zeitungen. Es fehlte nicht viel, so wären die "Kathodenstrahlen" bei dieser Gelegenheit in den Sprachschatz der Halbgebildeten eingedrungen. Nur wenige Leute wußten, dass der Ausdruck Kathodenstrahlen eine Hypothese Faradays in sich faßte, die heute in der Hauptsache der Geschichte der Elektrizität angehört. Die Unbekanntschaft mit der Hypothese verschloß dem Worte den Zutritt. Dagegen drängten sich die überall ausgestellten Wirkungen der neuen Sorte der Kathodenstrahlen dem Publikum auf, und nach dem Namen ihres Entdeckers wurden sie, entgegen seiner eigenen Bezeichnung X-Strahlen, Röntgenstrahlen genannt und sind im Begriff, durch den Sprachschatz der Halbgebildeten hindurch in die Umgangssprache überzugehen (I. 209).

Eine Häufung der Beispiele ist für bereite Leser überflüssig. Ich glaube jetzt den Unterschied zwischen den Worten der Umgangssprache und den technischen Ausdrücken, einen sehr beweglichen Unterschied, in der Hand zu halten, so gut man Quecksilber in der Hand halten kann. Das rinnt in feinsten Fäden zwischen den Fingern hindurch. Alle unsere Worte nämlich sind — ich will nicht müde werden, immer wieder mit dem ABC anzufangen — Erinnerungen an eine Gruppe ähnlicher Sinneseindrücke. Je nachdem wir unsere Aufmerksamkeit nun auf die Formel im ganzen richten oder auf einzelne Übereinstimmungen in den verglichenen Fällen, nennen wir unsere Erinnerungen entweder Worte oder Urteile. Das ist die psychologische Wahrheit. Die alte Logik lehrt, aus dem Worte oder Begriffe gehe das Urteil hervor. Wir sagen, das Wort umfasse alle Urteile, die man scheinbar daraus hervorziehe. Und jetzt erkennen wir, dass Worte der Gemeinsprache diejenigen sind, deren mitumfaßte Urteile uns als sichere Wahrheiten erscheinen. Technische Ausdrücke der Wissenschaft aber sind diejenigen Worte, deren mitumfaßtes Urteil uns nur eine Hypothese ist. Ich möchte dem Leser die kleine Sprachaufgabe überlassen, diesen Satz so umzuändern, dass er auch auf die technischen Ausdrücke der Industrie paßt. Innerhalb der Wissenschaft gestattet er die weiteste Ausdehnung. Die Bezeichnungen der Farben z. B. (rot, blau usw.) sind Worte der Umgangssprache, weil nur Ausnahmsköpfe die Annahme, es seien die Farben der Körper wirklich (das Urteil also, das in ihnen steckt), für eine unsichere Hypothese gehalten haben. Für einen Kant, für einen Helmholtz werden rot, blau usw. technische Ausdrücke in der Physiologie des Sehens.

Haben wir nun gar die Überzeugung gewonnen, dass alle wissenschaftlichen Erkenntnisse Hypothesen sind, so verschwindet für unsere Sprachkritik der letzte Unterschied zwischen Worten der Umgangssprache und technischen Ausdrücken. Und wir können nicht ohne ein stilles Lachen die schönen Sätze lesen, mit denen Whewell beinahe dichterisch die technischen Sprachen der Wissenschaften besingt, welche mit ihrer wertvollen wissenschaftlichen Fracht durch das Meer der Zeiten hindurchsegeln, während die Gemeinsprachen in Vergessenheit versinken. Man habe immer noch in beständigem Gebrauch die griechischen Ausdrücke für Geometrie, Astronomie, Zoologie und Medizin. Whewell vergißt, dass im Leben dieser etwa siebzig Menschengeschlechter eine Hypothese die andere abgelöst hat, dass die meisten technischen Ausdrücke während dieser Zeit rasch entstanden und rasch vergangen sind und dass die scheinbar, das heißt ihren Lauten nach gleichgebliebenen technischen Ausdrücke von Geschlecht zu Geschlecht einen Bedeutungswandel durchgemacht haben, der die in ihnen enthaltenen Urteile oft genug in das Gegenteil verkehrte. Mit demselben Rechte könnte man den unveränderlichen Menschengeist bewundern, wenn alte Mauern noch stehen, die einst dem Dienste der Venus Zuflucht gewährt haben und heute eine Kapelle der Muttergottes umschließen oder gar politische Volksversammlungen beherbergen.

Mit unserem Satze haben wir auch das Maß gefunden, mit welchem wir den Stolz der Modernen auf die bessere technische Sprache ihrer Wissenschaften messen können. Man rühmt an dieser neuen Sprache vor allem die Systematik. Es ist aber nicht wahr, dass unsere Erkenntnis sich vertieft hat; nur vermehrt haben sich unsere Kenntnisse. Die Fülle unserer Naturbeobachtungen ist größer und größer geworden, und über die Köpfe unserer Vorgänger hinweg sind wir zu neuen und neuen Gruppen von Beobachtungen gelangt, die wir bequem mit neuen und neuen technischen Ausdrücken im Gedächtnis zusammenhalten. Aber nach wie vor zerfallen diese Worte in solche, deren mitverstandene Urteile wir für wahr halten, und solche, deren mitverstandene Urteile uns noch Hypothesen sind. So sind unsere "Wahrheiten" die schlimmeren Irrtümer, wie sie sich in den Worten der Umgangssprache ausprägen; und die "Hypothesen" in den technischen Ausdrücken geben immer noch keine sichere Erkenntnis. Unsere Optik bietet einen Wald von Beobachtungen, wenn wir sie mit den paar Spässen der Griechen vergleichen. Aber der Schein der Farbenwirklichkeit täuscht die Umgangssprache heute wie vor Jahrtausenden, und die technischen Ausdrücke wie Farbenbrechung, Polarisation usw. enthalten Hypothesen, die nichts erklären, die sogar selbst noch der Erklärung bedürfen.

Whewell gibt sich in seinen Aphorismen über die wissenschaftliche Sprache große Mühe, Regeln für die Neubildung technischer Ausdrücke aufzustellen. Er weiß, wann Worte, der Umgangssprache in die wissenschaftliche Sprache aufzunehmen seien und wann nicht; er weiß furchtbar viel, nur nicht, dass die Geschichte der wissenschaftlichen Sprache seiner spottet. Denn nie ist ihm ein Zweifel gekommen an dem Werte der wissenschaftlichen Sprache, selbst dann nicht, wenn er die Mängel der Umgangssprache erkannt hat. Im elften Aphorismus lehrt er, dass technische Ausdrücke, welche eine theoretische Ansicht mit enthalten, zulässig seien, soweit ihre Theorie bewiesen sei. Er ahnt also nicht, dass jede theoretische Ansicht eine Hypothese ist und dass eine solche Hypothese in den Worten auch dann steckt, wenn der Wortlaut es nicht verrät. Er läßt großmütig gewisse Zufallsworte zu, deren Laute sich nicht auf die innewohnende Hypothese beziehen; er weiß nicht, dass jeder Gelehrte auch bei den Zufallsworten die Hypothese seiner Zeit mit verstehen wird.