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Merkmal

Es wird also darauf ankommen, was wir unter dem Begriff eines Merkmals verstehen und was in einer Urzeit als Merkmal zum Merken oder Benennen eines Dings geführt hat. Wir verstehen unter Merkmalen sehr ungleiche Begriffe, je nachdem wir entweder unserer zufälligen Muttersprache folgen oder die logisch verschulte Grammatik eingebleut bekommen haben oder gar bedächtig durch die höhere Schule der Logik selbst gegangen sind. Unter allen Umständen sehen wir Adjektive neben Substantiven in folgenden Beispielen: ein borstiges Tier, ein süßer Apfel, ein weißes Pferd, eine schwere Kugel, ein hoher Ton, ein schönes Gesicht, ein trauriger Vorfall, ein guter Mensch. Nach gebräuchlichen Vorstellungen wird man annehmen, dass die hier ausgesagten Adjektive von den konkretesten bis zu den abstraktesten Merkmalen fortschreiten. Nach diesen Vorstellungen sprechen die Adjektive gut, traurig und schön Werturteile aus, die Adjektive hoch und schwer immerhin noch subjektive Urteile, die Adjektive weiß und süß geben Empfindungen wieder und gar das Adjektiv borstig richtet die Aufmerksamkeit auf ein ganz konkretes Merkmal, auf einen körperlich abtrennbaren Teil des Ganzen. Mir ist es nun zunächst darum zu tun, auf das Enge und Irreführende dieser Unterschiede hinzuweisen.

In den extremen Fällen, wo das Adjektiv sich auf einen körperlich abtrennbaren Teil des Substantivs bezieht, ist die konkrete Vorstellung allerdings schwer aus unserer Phantasie zu vertreiben; aber auch da will das Adjektiv nicht einen Körper bezeichnen, sondern den Eindruck, den das Ganze durch den hervorgehobenen körperlichen Teil auf uns macht. Wir denken bei "borstig" nicht an die losgetrennten Borsten oder an eine ihrer Verwendungen, sondern einzig und allein an die Eigenschaft, welche das Tier auf unsere Augen und etwa noch auf unser Tastgefühl macht. Das zeigt sich vielleicht noch deutlicher, wenn wir ein Adjektiv von noch derberen Körperteilen hernehmen, wobei zu bemerken ist, dass dergleichen konkreteste Adjektive wohl sämtlich neuere und neueste Schöpfungen sind. Sagen wir "der Mensch ist ein zweihändiges Tier", so stellt sich der Hörer je nach seiner naturwissenschaftlichen Bildung eine ganze Menge Merkmale vor, die mit der Zweihändigkeit zusammenhängen, aber die beiden abgehauenen Hände stellt er sich nicht vor; im Grunde Wird bei "zweihändiges Tier" nicht anders an zwei konkrete Hände erinnert als in der Bezeichnung "zweihändiges Klavierstück". Die beiden Hände, die Borsten werden nur im Geiste von dem Ganzen abstrahiert, um ein unterscheidendes Merkmal zu gewinnen.

Ganz ähnlich läge die Sache bei süß und weiß, wenn wir gelegentlich darauf achten wollten, dass eine bittere Pille mit süßem Safte überzogen, dass ein mißfarbiger Hals mit weißem Puder bedeckt ist. Wer die Pille oder den Hals durch den besonders dazu geeigneten Sinn wahrnimmt, wird zunächst die Empfindung süß, weiß haben, um nachher zu erkennen, dass diese Eigenschaftsworte auf abtrennbare Teile des Ganzen gingen, dass er getäuscht worden sei. In den häufigsten Fällen des Gebrauches von süß, weiß und ähnlichen Adjektiven liegt aber eine viel feinere Täuschung vor, der der einfache Mensch immer wieder unterworfen ist, wenn die Psychologie die Sachlage auch schon vor Jahrhunderten aufgeklärt hat. Das natürliche Denken möchte immer sagen, die Dinge selbst seien süß oder weiß; es gehört eine erkenntnistheoretische Überlegung dazu, auch diese Eigenschaften schon als subjektive zu erkennen. Nichts auf der Welt wäre weiß, gäbe es keine Augen, nichts auf der Welt wäre süß, hätten wir keine Geschmacksorgane. Dass der weißen Farbe im Gegensatze zu anderen Farben ein bestimmtes objektives Verhältnis zugrunde liegt, ebenso dem süßen Geschmack, das geht uns hier nichts an; erstens wissen wir unendlich wenig von der objektiven, meinetwegen substantivischen Grundlage der Eigenschaften, und zweitens würden auch bei vollständiger Kenntnis der Ursachen alle Eigenschaften doch Eigenschaften bleiben, das heißt Urteile über die Wirkungen, welche diese Ursachen in unseren Sinnesorganen hervorbringen. Schweineborsten sind viel greifbarere Ursachen als die hypothetischen Ätherwellen, welche auf uns den Eindruck "weiß" machen; wenn aber schon "borstig" nur an den Gesamteindruck der Tieroberfläche erinnert (und nicht unmittelbar an die Schweineborsten selbst), so noch vielmehr "weiß", dessen Ursache wir nicht begreifen können. Sonst wären die entsprechenden Negativbegriffe nicht sprachlich und logisch gleichwertig. Wir sagen aber ganz parallel borstig und nackt, weiß und schwarz.

Es gab eine Zeit, in welcher man die Eigenschaft der Schwere ebenso in den Dingen selbst suchte, wie die Eigenschaften der Süße und der Weiße; seit der Aufstellung des Gravitationsgesetzes ist es jedem Gebildeten "leicht" geworden, die Eigenschaft der Schwere sich als von den schweren Dingen getrennt oder abstrahiert vorzustellen. Wir wissen sogar, dass ein Pfundgewicht auf unserer Hand uns ganz anders erscheinen würde, wenn wir auf dem Monde lebten. Darum wird es uns leicht, "schwer" als einen subjektiven Eindruck zu verstehen, noch leichter die Bezeichnungen für die Töne, für welche wir wohl auch darum in der ganz populären Sprache so wenige Worte haben, weil die Menschen die Töne von jeher nicht den Dingen selbst beilegten. Die Wellenbewegung einer Stimmgabel kann man sehen, die Schwingungen einer Glocke kann man fühlen; es ist darum seit alter Zeit ausgemacht, dass das Tönen eher zu den Tätigkeiten als zu den Eigenschaften der Dinge gehört. Wobei ich nicht untersuchen kann, ob nicht in irgend einer Urzeit ein Bach oder ein Wasserfall "laut" hieß wie der Schnee weiß. Die Gemeinsprache ist der wissenschaftlichen Einsicht nicht gefolgt und macht immer noch einen Unterschied zwischen einer Tätigkeit der Glocke, die einige hundertmal in der Sekunde schwingt und darum den Ton g gibt, und zwischen der Eigenschaft eines Blattes, dessen Oberfläche nach der jetzt geltenden Hypothese billionenmal in der Sekunde schwingt und darum die Farbe grün gibt. Wir aber müssen einsehen, dass zwischen den Gruppen süß und weiß einerseits, schwer und hoch (in der Musik) anderseits nach den Lehren der augenblicklichen Wissenschaft ein psychischer Unterschied nicht besteht.

Wenn wir nun endlich Werturteile fällen, wenn wir ein Gesicht schön, einen Vorfall traurig, einen Menschen gut nennen, so ist es am klarsten, dass wir dabei nur an unsere Gefühle denken und nicht an abtrennbare Teile der Dinge, die wir so bezeichnen. Es ist überflüssig, an dieser Stelle näher auf diese Fragen einzugehen und so im Vorübergehen die Prinzipien der Ästhetik und der Ethik kritisieren zu wollen. Das ist hauptsächlich von Hobbes und Locke so gründlich ausgeführt worden, dass niemand mit der Umwertung aller ästhetischen und ethischen Werte auf Nietzsche, den Dichter, hätte zu warten brauchen.

Das Ergebnis dieses Überblicks ist nun freilich äußerst banal: alle Eigenschaftswörter erinnern uns nur an Eindrücke oder Sinneswahrnehmungen, welche die Dinge auf uns gemacht haben. Was wir die Dinge selbst nennen, was wir konkret nennen, das sind die Komplikationen von Eigenschaften, die wir einer und derselben Quelle zuschreiben. Ein Apfel ist, was zugleich und hypothetisch aus derselben Quelle stammend auf unsere Augen, unseren Tastsinn, unseren Geruchssinn und unseren Geschmack diese und diese Eindrücke ausübt. Eigenschaften sind die Teileindrücke, die wir im Geiste von dem Ganzen abtrennen, indem wir sie nach unseren Sinnesorganen klassifizieren. Und da nichts in unserem Verstände ist, was nicht vorher in den Sinnen war, da unsere Aufmerksamkeit so beschränkt ist, unser Bewußtsein so eng, da wir endlich, wenn die Dinge allmählich näher kommen, zunächst immer nur irgend einen besonderen Umstand an ihnen wahrnehmen, entweder die Farbe oder den Ton oder die Form usw., so können wir wohl sagen, dass Eigenschaften die ersten Eindrücke waren, die wir von der Außenwelt hatten. Die Psychologie wird uns nicht Lügen strafen.

Ganz anders liegt die Frage, wenn wir sie vom Standpunkte der Entwickelungsgeschichte historisch auffassen. Dann können wir sie überhaupt nicht beantworten. Denn niemals werden wir erfahren, ob der Mensch einer Urzeit seinen Gesichtssinn z. B. für die Farbe Grün schon differenziert hatte, als er den Baum als ein Ganzes erkannte und benannte, oder umgekehrt; niemals werden wir erfahren, ob für den werdenden Menschen das Ganze oder der Teil früher da war.