Wirklichkeitswelt
Ich weiß wohl, daß diese Deduktion ein Spiel mit Worten ist. Goethe hat sich im zweiten Teile des Faust schon über Fichte lustig gemacht, wenn er den Baccalaureus sagen läßt: "Die Welt, sie war nicht, eh' ich sie erschuf". Weder Berkeley, noch Fichte, noch Stirner (der den Solipsismus ins Politische unideutete) haben gezögert, ein Stück der Außenwelt als wirklich anzuerkennen und herunter zu schlucken, sobald sie Hunger hatten. Instinktiv betrachten wir einen Menschen für wahnsinnig, der aus theoretischen Gründen leugnet, daß die Wirklichkeitswelt da draußen irgendwie die Ursache sei des Weltbildes in uns. Nur daß die Wirklichkeit anders sei als ihr Bild, nur daß das Bild der Welt ein bloßes Symbol sei, behauptet die Erkenntnistheorie. Daß irgend eine Wirklichkeit existiert, scheint mir aber nicht nur eine unabweisliche Vorstellung unseres Instinktes (darum Induktion aus einem einzigen Falle), sondern fast so stark wie eine Anschauung zu sein, wenn wir eine Evolution unsrer Zufallssinne glauben.
Es scheint mir nämlich, daß unter allen Sätzen, die jemals sprachlich nachgewiesen worden sind, keiner jemals mit zahlreicheren Experimenten sprachlich bewiesen worden ist als der: unser Weltbild hat da draußen irgend eine "Ursache". Die Orientierung des Säuglings in der Welt, sein Vergleichen der Tast-, Gesichts- und Gehörsvorstellung, weiter das ganze Leben des Menschen, täglich vom Erwachen bis zum Einschlafen ist ein seit Menschengedenken unaufhörlich und von Milliarden von Beobachtern wiederholtes Experiment zu der Frage, ob er sein Weltbild etwa nur träume. Und wenn sämtliche Sinne einmal erkannt würden als Modifikationen des Tastsinnes, wenn alle Raumvorstellungen einmal zurückgeführt würden auf Wahrnehmungen desselben Tastsinnes, so würden immer noch alle Sinneseindrücke, die seit Entstehung des organischen Lebens auf der Erde jemals vorgekommen sind, gültige Experimente für das Dasein irgend einer wirklichen Ursache unseres Weltbildes bleiben. Wenn alle Sinneswahrnehmungen und alle Raurnvorstellungen schließlich analysiert würden durch das letzte Tatsächliche, durch die sogenannte Undurchdringlichkeit der Körper, subjektiv durch das Gefühl des Widerstandes, den jeder Körper mir darbietet, so würde dieses wohlbekannte Gefühl des Widerstandes, milliardenfach erfahren, milliardenfach ein Experiment sein, das eine harte Wirklichkeitswelt hinter unserem luftigen Welt bilde mit dem höchsten Grade der Wahrscheinlichkeit erraten läßt.
Dieses schwache Bekenntnis zum urältesten Wirklichkeitsglauben und der Gebrauch naturwissenschaftlicher Worte im Dienste dieses Glaubens darf beileibe nicht als eine Neigung zum Materialismus verstanden werden. Unsere Sprache ist nur — wie ich oft gesagt und aus ihrer Herkunft von Sinneseindrücken erklärt habe — so durchaus materialistisch, daß sie keine anderen Worte hergibt.
Die neuere Theorie der Sinneswahrnehmungen, welche die Empfindungen der Wärme, des Geschmacks, des Gehörs und des Gesichts mit mathematischer Genauigkeit in Wirkungen von äußeren Bewegungen aufzulösen gesucht hat, ist eigentlich nur ein Ergebnis materialistischer Weltanschauung. Eine Geschichte dieser Theorie lehrt, daß die neuesten und methodisch gewonnenen Messungen nur Fortführungen jener Hypothesen sind, welche auf Grund der mechanischen Entdeckung Galileis von Descartes, Gassendi und Hobbes für das Leben der Seele aufgestellt worden sind. In dieser Beziehung war auch Descartes Materialist. Wenn nun die neuesten Physiologen, in der Ahnung, daß der Materialismus überwunden sei, ihre Studien an Kants Erkenntnistheorie anknüpfen wollen, so erweisen sie dieser Metaphysik eine Ehre, die Kant nur mit Verleugnung seines Grundgedankens annehmen könnte. Diese Physiologen, an ihrer Spitze der Physiker Helmholtz. haben nämlich die dunkle Vorstellung, dem Ding-an-sich näher gekommen zu sein, wenn sie die Erscheinungen durch die der Wirklichkeit angehörenden Wellen Schwingungen, Molekularbewegungen, erklärt haben. Bewegungen jedoch sind ohne die Begriffe Kraft und Zeit nicht denkbar; Kraft und Zeit aber gehören nach Kant ebensosehr zu den Kategorien des Verstandes, also zu der Erscheinungswelt, wie Farben und Töne. In der Sprache von Locke ausgedrückt, haben die modernen Physiologen nur die sekundären Eigenschaften der Körper durch ihre primären erklärt; die primären Eigenschaften sind weder durch sie, noch durch Kant erklärt, weder materialistisch, noch idealistisch erklärt.
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