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Botanische Klassifikation

Es dünkt uns ungeheuerlich, solchen Fabeln in der Geschichte der technischen Ausdrücke zu begegnen. Und doch war das alles, solange man an die Fabeln glaubte, nicht anders als manche andere Nomenklatur der Botanik, die auf den Glauben alter Gelehrter und verbreiteter Volkstraditionen gegründet war. Was die Menschen interessierte, als Nahrungsmittel oder als Arzneipflanze, das wurde besonders benannt; und der Glaube an die Heilkraft gewisser Pflanzen mag oft heute noch so legendarisch sein wie die Hyazinthenfabel, die annahm, dass die Natur mit den zufälligen Schriftzeichen der zufälligen griechischen Sprache operiere. War doch die Botanik in ihren Anfängen und noch weit ins Mittelalter hinauf die griechische Bezeichnung für ein Kräuterbuch. Das Werk des Dioskorides, welches der Torheit mittelalterlicher Naturspekulanten für das klassische Werk der Botanik galt, beschrieb etwa sechshundert Nutzpflanzen. An eine systematische Nomenklatur brauchte man bei solcher Armut nicht zu denken. Als aber nach dem Wiedererwachen der Wissenschaften schließlich viele Tausende von Pflanzen beobachtet und beschrieben waren, wurde die Menge der Namen unbequem. Es gehört zum Wesen der Sprache, durch gemeinsame Bezeichnung ähnlicher Erinnerungen das Gedächtnis zu entlasten. Eine Klassifikation der Pflanzen wurde wünschenswert. Aber auch damals noch, im 16. Jahrhundert, waren fast immer nur die wirklichen oder vermeintlichen Nutzpflanzen beobachtet worden; sodann aber scheiterte die Beschreibung an dem Mangel dessen, was ich wieder, wie bei der Chemie, die Grammatik der Wissenschaft nennen möchte. Beispielsweise waren die Bezeichnungen "gesägt", "gezahnt", "gekerbt", "gewimpert" usw. für die Formen der Blattränder noch nicht vorhanden, weil die ähnlichen Formen eben noch nicht verglichen waren. Es fehlten die Worte, weil die Aufmerksamkeit gefehlt hatte. Die Einteilungen der Pflanzen, die aus alten Zeiten herrühren, erscheinen uns kindisch; so wenn der Klassiker Dioskorides seine sechshundert Pflanzen in aromatische, ernährende und weinerzeugende unterschieden hatte. Wir lächeln darüber; wir lächeln aber nicht, wenn wir selbst immer noch nach den elementarsten Gesichtspunkten von Bäumen, Sträuchern und Kräutern reden.

Als nun die unübersehbar werdende Menge der bekannten Pflanzen eine Einteilung in Arten und Unterarten notwendig machte, da geschah, was immer geschieht: das Bedürfnis nach einer Stütze des Gedächtnisses war stärker als das Bedürfnis nach wissenschaftlicher Erkenntnis, und ein künstliches System war fertig, bevor man an ein natürliches System auch nur denken konnte. Immerhin war es ein geistreicher Einfall des schon genannten Caesalpinus, dass er zur Nomenklatur der Pflanzen eine der wichtigsten Pflanzenerscheinungen benützte, die Fruchtform. Das war bequem für das künstliche System, weil man je nach der Zahl des Samens und der Samenbehälter von Eins weiter vordringen konnte; es war auch erfreulich für die Sehnsucht nach einem natürlichen System, weil die Wichtigkeit der Frucht für die Pflanze auf der Hand lag. Die Einteilung nach Samen und Samenbehältern war doch ein Fortschritt gegen die alphabetische Anordnung. Was dem Caesalpinus vorschwebte, das ist heute noch das Ideal einer systematischen Pflanzennomenklatur: ein Einteilungsgrund, der ähnliche Pflanzen unter einer gleich benannten Klasse vereinigt. Und niemand scheint zu bemerken, wie dabei die lebendige Natur der Sprache spottet. Denn wir kennen nicht das natürliche System der Pflanzen; und so ist unser Kriterium dafür, ob der Einteilungsgrund gut gewählt war, immer wieder von einer laienhaften und naiven Vergleichung der Pflanzen abhängig.

Man kann fast jede wissenschaftliche Neuerung, die dann von der offiziösen Wissenschaft eine epochemachende Entdeckung genannt wird, besser verstehen, wenn man sie mehr als Sehnsucht denn als Erfüllung auffaßt. Die neuen Antworten sind nur neue Fassungen der alten Frage. Die Hypothesen, welche man für Bettungen ausgibt, sind nur Hilferufe. Auch die Klassifikation des Caesalpinus war keine Hilfe, sondern nur ein Hilferuf. So viele Mühe man sich auch gab, es fehlte nach wie vor an einer technischen Sprache der Botanik, die Pflanzenbeschreibungen waren unverständlich, weil jeder Botaniker seine eigene Sprache redete. So konnte es kommen, wie Cuvier erzählt, "dass es beinahe unmöglich geworden war, die von den vorangegangenen Botanikern besprochenen Gewächse wiederzuerkennen, da dreißig oder vierzig Botaniker einer und derselben Pflanze ebenso viele verschiedene Namen beigelegt hatten". Man achte dabei darauf, dass damals alle Botaniker der verschiedenen Länder lateinisch schrieben. Trotzdem gab es keine gemeinsame botanische Sprache. Diese mußte erst erfunden werden. Eine Auseinandersetzung über die erwähnte Synonymik der Pflanzen mußte vorausgehen; sie ist 1623 im Pinax theatri botanici erfolgt. Es ist ein Fall, der kaum seinesgleichen hat in der Geschichte des Menschengeistes. Wie nach der Bibelerzählung der liebe Gott dem Adam die Geschöpfe vorführte, damit er sie benenne, so einigten sich jetzt die Naturforscher darüber, was sie fortan unter bestimmten Namen verstehen wollten. Es ist der Ursprung einer Sprache in historischer Zeit.