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Darwinismus

Wer sich mit der Geschichte des Darwinismus eingehend befassen will, der wird lächelnd bemerken, wie seine technischen Ausdrücke schon lange vor ihm vorhanden waren und eigentlich nur dadurch zu allgemeinem Ansehen gelangten, dass Darwin selbst durch eine Fülle von Wirklichkeitsbeobachtungen Vorstellungsmaterial für diese technischen Ausdrücke beibrachte. Ich will die bekannten Vorgänger Darwins nicht erst nennen. Aber selbst bei Whewell ist ein Kapitel überschrieben "das Problem von der Transmutation der Spezies", zwanzig Jahre vor dem Erscheinen des Darwinischen Werkes über die Entstehung der Arten. Die Erscheinungen der Vererbung und der Anpassung waren längst bekannt, und selbst die Zuchtwahl findet sich schon bei Geoffroy Saint-Hilaire unter dem Namen der elektiven Affinität, welche freilich aus der Chemie herübergenommen war. Die wichtigste Tat Darwins endlich, sein Kampf gegen die Vorstellungen der Teleologie, findet sich bei diesem selben Geoffroy Saint-Hilaire viel schärfer und fester ausgesprochen. "Je me garde de prêter à Dieu aucune intention", sagt er einmal; und zur selben Zeit wurde auch schon die Hypothese von der Entstehung der Fische, der Vögel und der Säugetiere (den Menschen eingeschlossen) aus kleinen gallertartigen Körpern in die Welt hinausgeschickt. Man kann also sagen, dass die Gesetze des Darwinismus schon ausgesprochen waren, dass aber noch ihr induktiver "Beweis fehlte. Man kann das so sagen. Man wird aber richtiger etwa den folgenden Ausdruck wählen: es hätten schon vor Darwin einzelne ungenaue Beobachtungen zu vorläufigen technischen Ausdrücken geführt, die durch die reicheren Beobachtungen Darwins an lebhaftere Anschauungen geknüpft werden konnten. Es stimmt bedenklich gegen den bleibenden Wert der Darwinischen Hypothese, dass die furchtbar schwierigen technischen Ausdrücke seiner neuen Lehre so rasch zu Worten der halbgebildeten Umgangssprache geworden sind. Es hängt das damit zusammen, dass der Name dieses Forschers selbst ein Wrort der Umgangssprache geworden ist, dass der "Darwinismus" bekannter ist als seine Behauptungen; auf hundert Menschen, die das Wort Darwinismus gebrauchen, kommt kaum einer, der seine Lehren kennt; und es entspricht sehr gut dem Wesen der Sprache, dass das Wort Darwinismus metaphorisch zu einem Ausdruck für die Hypothese geworden ist, es stamme der Mensch vom Affen ab. In Deutschland findet man Darwins technische Ausdrücke in allen Romanen wieder. "Kampf ums Dasein" ist ein Modewort geworden, und selbst die zurückhaltenden Franzosen haben das Wort struggle-forlifeur in dem Sinn unseres "Streber" aufgenommen. Es ist übrigens für den Umschwung der Weltanschauung, in diesem Falle für die Geschichte des menschlichen Gewissens, beachtenswert, dass die Bezeichnung Streber noch eine Miß-billigung enthält, welche in dem neueren struggleforlifeur geschwunden ist.

Der letzte Grund, weshalb die neuen Beobachtungen Darwins in technischen Ausdrücken festgehalten werden konnten, die so rasch in die Umgangssprache eindringen, scheint mir ein sehr schönes und merkwürdiges Beispiel für die Rolle zu sein, welche die technischen Ausdrücke in der Geschichte der sogenannten Welterkenntnis spielen. Ich glaube nicht, dass diese verzweifelte Sackgasse schon gesehen worden ist.

Es dürfte nämlich zugestanden werden, dass der Darwinismus erst möglich war, nachdem Lyell für die Entstehung der Erde ungemessene Zeiträume in Anspruch genommen hatte. Auch in anderer Beziehung führte die Geologie, welche ganze Schichten ausgestorbener Lebewesen nachwies, Schichten, in denen sich die gegenwärtigen Lebewesen nicht fanden, zu der Frage nach der Entstehung der gegenwärtigen Arten. Gab es vor unserer Zeit eine andere Schöpfung, so entstand für den alten Glauben das Dilemma: entweder eine Keihe von verschiedenen göttlichen Schöpfungen, also eine Vermehrung der Wunderverlegenheiten, oder eine Entwicklung der Gegenwart aus der Vorzeit anzunehmen. Doch das neue Hilfsmittel war immer die Ausdehnung des Zeitraums der Entwicklung. Hatte man einst geglaubt, ein Gott habe die Arten zu seiner Kurzweil geschaffen, so gelangte man jetzt zu einer ungöttlichen Entwicklung aus Langerweile. Ich muß an dieser Stelle wiederholen, dass Darwin selbst, als er mit gewaltiger Arbeit die Metaphysik der Physiologie auf die Physik der Ursachen zurückzuführen suchte, mit dem Begriff der Endursache nicht fertig geworden ist. Was einmal Geoffroy Saint-Hilaire mit glänzendem Spotte — gegen die Teleologie von Cuvier, wenn ich nicht irre — vorgebracht hat, das ließe sich ganz wunderhübsch noch heute gegen den im Darwinismus versteckten Schöpfungsplan einwenden: "Bei so einer Art zu schließen, wird man auch sagen können, wenn man einen Mann auf Krücken gehen sieht, dass er ursprünglich von der Natur dazu bestimmt gewesen sei, eines seiner Beine gelähmt oder abgeschnitten zu erhalten." Die Darwinisten würden freilich nicht mehr von einer Naturbestimmung, wohl aber von einer Anpassung reden und müßten konsequent in den Krücken einen Fortschritt sehen wie im Fahrrad.

Darwin ist sich niemals bewußt, dass er den Begriff der Endursache nicht überwunden hat; er glaubt ehrlich, dass er nur noch an das Spiel von Ursache und Wirkung glaube. Wir wissen nun, dass das Spiel von Ursache und Wirkung nur ein abstrakter Ausdruck sei für den Begriff der Zeit, der Zeit, in welcher wir stehen und atmen, aus der wir kommen und in die wir untertauchen, der Zeit, die uns nach wenigen Stunden oder Jahren töten wird, die für uns das einzig Wirkliche ist und die wir dennoch nicht kennen. Es ist also gar nicht merkwürdig, dass die von der Geologie geforderte Freiheit im Zeitverbrauch bei der Welterklärung zunächst darauf führte, die Endursachen zugunsten der Ursachen abschaffen zu wollen. Und da halten wir wieder, von einem anderen Wege kommend, bei der Kritik des Neovitalismus. Die bloße Negation aller Zwecke und Endursachen, die Negation aller progressiven Tendenzen und jedes Weltplans hätte naturgemäß zu keiner neuen Welterklärung geführt, sondern nur zu der verzweifelnden Resignation: da steht mir die Wirklichkeitswelt gegenüber mit Erscheinungen, in denen ich gewisse Ähnlichkeiten zu beobachten glaube und mir darum merken kann, da lasse ich die Wirklichkeitswelt an mir vorübergleiten, bin für ihr innerstes Wesen vielleicht sinnenloser als ein Magnetstein und nenne die abrauschende Zeitfolge gern eine Kette von Ursachen und Wirkungen, ohne zu wissen, was eine Ursache, ohne zu wissen, was die Zeit sei; nichts weiß ich von der Wirklichkeitswelt, als dass sie ist, das heißt, dass etwas auf meine zufälligen Sinne wirkt; nichts weiß ich von der Wirklichkeitswelt, als dass Erscheinungen auf Erscheinungen folgen; und nicht einmal das weiß ich, denn die Folge vollzieht sich in der Zeit, und auch die Zeit steckt vielleicht nur in meinem Kopfe. So spräche die Resignation. Denn die unendliche Zeit, welche nach dem Darwinismus allein die Wirklichkeit erklären soll, ist selbst nur ein anderer technischer Ausdruck, ein mathematischer, für diese selbe Wirklichkeit. Die Ursachen wirken, erzeugen Wirkungen; die Gesamtheit dieser Kette ist für uns die Wirklichkeit oder die Zeit.

Und da setzt der kritische Neovitalismus ein, wenn er die Entdeckung macht, dass das mathematische Zeichen der Wirklichkeit, dass die Zeit sich begrifflich gar nicht gebrauchen läßt, weil ihr Vorzeichen nicht umzukehren ist, weil eine nach rückwärts gehende Zeit sich höchstens denken, aber nicht aüsdenken läßt. Immer nur wird aus dem Kinde ein Mann, nicht umgekehrt. Kein Wesen kann nach der Geburt in den Mutterleib zurück. Und auch in dem Ungeheuern Laboratorium unseres Sonnensystems hat die Lehre von der Umwandlung der Naturkräfte ein Loch, weil die Wärme sich niemals nachweisbar ganz in Arbeit umformen läßt, weil das Weltall ungeheure Summen von Wärme verschlingt. So tritt aus dem schleierhaften Begriff der Entwicklung die progressive Tendenz oder ein Schöpfungsplan in neuer Maske hervor, und dieser Hauptbegriff der neuen Weltanschauung erweist sich als unbrauchbar für die Wissenschaft und bleibt gerade gut genüg, um als Scheidemünze in der Umgangssprache abgegriffen zu werden.

Alle diese Beispiele zur Geschichte der technischen Sprache können uns davon überzeugen, dass der stolze Unterschied, der heutzutage zwischen Naturwissenschaft und Naturbeschreibung gemacht wird, gar nicht besteht; man täte gut daran, das alte Wort Naturbeschreibung beizubehalten und höchstens noch von ein wenig Naturgeschichte zu sprechen, da man doch auch die Schicksale von etwa hundert Geschlechtern der Menschen mit dem drolligen Namen Weltgeschichte zu bezeichnen liebt. Unsere Beispiele lehren aber weiter, wie viel oder wie wenig der große Gegensatz zwischen Umgangssprache und technischer Sprache eigentlich besagt. Wir kehren damit zu Whewells Aphorismen über die Sprache der Wissenschaft zurück, zu den in Deutschland zu wenig bekannten Aphorismen, die er seiner Philosophie der induktiven Wissenschaften vorausgeschickt hat. Sein bleibendes Verdienst ist, dass er im Geiste seiner Landsleute Bacon und Mill alles ablehnte, was nicht aus unserer Erfahrung stammt, dass er nach besten Kräften die Ideologie des Mittelalters bekämpfte, welche in Deutschland nach dem Eindrucke unserer weltberühmten Philosophie unausrottbar scheint.