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3. Der Dicke

a. Ansprache an die Landschaft

Aus den Gebüschen des andern Ufers traten gewaltig vier nackte Männer, die auf ihren Schultern eine hölzerne Tragbahre hielten. Auf dieser Tragbahre saß in orientalischer Haltung ein ungeheuerlich dicker Mann. Trotzdem er durch Gebüsche auf ungebahntem Weg getragen wurde, schob er die dornigen Zweige doch nicht auseinander, sondern durchstieß sie ruhig mit seinem unbeweglichen Körper. Seine faltigen Fettmassen waren so sorgfältig ausgebreitet, daß sie zwar die ganze Tragbahre bedeckten und noch an den Seiten gleich dem Saume eines gelblichen Teppichs hinunterhiengen, und ihn dennoch nicht störten. Sein haarloser Schädel war klein und glänzte gelb. Sein Gesicht trug den einfältigen Ausdruck eines Menschen der nachdenkt und sich nicht bemüht es zu verbergen. Bisweilen schloß er seine Augen; öffnete er sie wieder, verzerrte sich sein Kinn.

„Die Landschaft stört mich in meinem Denken“, sagte er leise, „sie läßt meine Überlegungen schwanken, wie Kettenbrücken bei zorniger Strömung. Sie ist schön und will deshalb betrachtet sein.“

„Ich schließe meine Augen und sage: Du grüner Berg am Flusse, der Du gegen das Wasser rollendes Gestein hast, Du bist schön.“

„Aber er ist nicht zufrieden, er will, daß ich die Augen zu ihm öffne.“

„Wenn ich aber mit geschlossenem Auge sage: Berg, ich liebe Dich nicht, denn Du erinnerst mich an die Wolken, an die Abendröte und an den steigenden Himmel und das sind Dinge, die mich fast weinen machen, denn man kann sie niemals erreichen, wenn man sich auf einer kleinen Sänfte tragen läßt. Während Du mir aber dieses zeigst, hinterlistiger Berg, verdeckst Du mir die Fernsicht, die mich erheitert, denn sie zeigt Erreichbares in schönem Überblick. Darum liebe ich Dich nicht, Berg am Wasser, nein, ich liebe Dich nicht.“

„Aber diese Rede wäre ihm so gleichgültig, wie meine frühere, wenn ich nicht mit geöffneten Augen redete. Sonst ist er nicht zufrieden.“

„Und müssen wir nicht ihn uns freundlich erhalten, damit wir überhaupt ihn nur aufrecht erhalten, ihn, der eine so launische Vorliebe für den Brei unserer Gehirne hat. Er würde seinen gezackten Schatten auf mich niederschlagen, er würde stumm schrecklich kahle Wände mir vorschieben und meine Träger würden über die kleinen Steinchen am Wege stolpern.“

„Aber nicht nur der Berg ist so eitel, so zudringlich und so rachsüchtig dann, alles andere ist es auch. So muß ich mit kreisrunden Augen – oh sie schmerzen – immer wiederholen: „

„Ja, Berg Du bist schön und die Wälder auf Deinem westlichen Abhang freuen mich. – Auch mit Dir, Blume, bin ich zufrieden und Dein Rosa macht meine Seele fröhlich. – Du Gras auf den Wiesen bist schon hoch und stark und kühlst. – Und Du fremdartiges Buschwerk stichst so unerwartet, so daß unsere Gedanken in Sprünge kommen. – An Dir aber Fluß habe ich so großes Gefallen, daß ich mich durch Dein biegsames Wasser werde tragen lassen.“

Nachdem er diese Lobpreisung zehnmal laut ausgerufen hatte unter einigem demütigen Rücken seines Körpers, ließ er seinen Kopf sinken und sagte mit geschlossenen Augen:

„Jetzt aber – ich bitte Euch – Berg Blume Gras, Buschwerk und Fluß, gebt mir ein wenig Raum, damit ich atmen kann.“

Da entstand ein eilfertiges Verschieben in den umliegenden Bergen, die sich hinter hängende Nebel stießen. Die Alleen standen zwar fest und hüteten ziemlich die Straßenbreite, aber frühzeitig verschwammen sie: Am Himmel lag vor der Sonne eine feuchte Wolke mit leise durchleuchtetem Rand, in deren Beschattung das Land sich tiefer senkte, während alle Dinge ihre schöne Begrenzung verloren.

Die Tritte der Träger wurden bis zu meinem Ufer hörbar und doch konnte ich in dem dunklen Viereck ihrer Gesichter nichts genaues unterscheiden. Ich sah nur, wie sie ihre Köpfe zur Seite neigten und wie sie ihren Rücken krümmten, denn die Last war ungewöhnlich. Ich hatte Sorge ihretwegen, denn ich bemerkte, daß sie müde waren. Daher sah ich mit Spannung zu, als sie in das Ufergras traten, dann in noch ebenmäßigem Tritt durch den nassen Sand gingen, bis sie endlich in das schlammige Schilf sanken, wo die beiden rückwärtigen Träger sich noch tiefer bückten, um die Sänfte in ihrer wagrechten Lage zu erhalten. Ich preßte die Hände in einander. Jetzt mußten sie bei jedem Schritt ihre Füße hochheben, so daß ihr Körper in der kühlen Luft dieses veränderlichen Nachmittags vor Schweiß glänzte.

Der Dicke saß ruhig, die Hände auf seinen Schenkeln; die langen Spitzen des Schilfrohres streiften ihn, wenn sie hinter den vordern Trägern aufschnellten.

Die Bewegungen der Träger wurden unregelmäßiger, je näher sie zum Wasser kamen. Bisweilen schwankte die Sänfte, als sei sie schon auf den Wellen. Kleine Pfützen im Schilf mußten übersprungen oder umgangen werden, denn vielleicht waren sie tief.

Einmal erhoben sich Wildenten schreiend und stiegen steil in die Regenwolke. Da sah ich in einer kurzen Bewegung das Gesicht des Dicken; es war ganz unruhig. Ich stand auf und eilte in eckigen Sprüngen über den steinigen Abhang, der mich vom Wasser trennte. Ich achtete nicht darauf, daß es gefährlich war, sondern ich dachte nur daran, dem Dicken zu helfen, wenn seine Diener ihn nicht mehr tragen könnten. Ich lief so unbesonnen, daß ich mich unten beim Wasser nicht einhalten konnte, sondern ein Stück in das aufspritzende Wasser laufen mußte und erst stehen blieb, bis das Wasser mir bis an die Knie reichte.

Drüben aber hatten die Diener unter Verrenkungen die Sänfte ins Wasser gebracht und während sie mit der einen Hand sich über dem unruhigen Wasser hielten, stemmten sie mit vier behaarten Armen die Sänfte in die Höhe, so daß man die ungewöhnlich erhobenen Muskeln sah.

Das Wasser schlug zuerst ans Kinn, stieg dann zum Mund, der Kopf der Träger beugte sich zurück und die Traghölzer fielen auf die Schultern. Das Wasser umspielte schon den Nasenrücken und noch immer gaben sie die Mühe nicht auf, trotzdem sie kaum in der Mitte des Flusses waren. Da schlug eine niedrige Welle auf die Köpfe der Vordern nieder und die vier Männer ertranken schweigend, indem sie mit ihren wilden Händen die Sänfte mit sich hinunter zogen. Wasser schoß im Sturze nach.

Da brach aus den Rändern der großen Wolke der flache Schein der abendlichen Sonne und verklärte die Hügel und Berge an der Grenze des Gesichtskreises, während der Fluß und die Gegend unter der Wolke in undeutlichem Lichte war.

Der Dicke drehte sich langsam in der Richtung des strömenden Wassers und wurde flußabwärts getragen, wie ein Götterbild aus hellem Holz, das überflüssig geworden war und das man daher in den Fluß geworfen hatte. Er fuhr auf der Spiegelung der Regenwolke hin. Längliche Wolken zogen ihn und kleine gebückte schoben, so daß es bedeutenden Aufruhr gab, den man noch am Anschlagen des Wassers an meinen Knien und an den Ufersteinen merken konnte.

Ich kroch rasch die Böschung wieder hinauf, um auf dem Weg den Dicken begleiten zu können, denn wahrhaftig ich liebte ihn. Und vielleicht konnte ich etwas erfahren über die Gefährlichkeit dieses scheinbar sichern Landes. So ging ich auf einem Sandstreifen, an dessen Schmalheit man sich erst gewöhnen mußte, die Hände in den Taschen und das Gesicht im rechten Winkel zum Fluß gewendet, so daß das Kinn fast auf der Schulter lag.

Auf den Ufersteinen saßen zarte Schwalben.

Der Dicke sagte: „Lieber Herr am Ufer, versuchen Sie es nicht, mich zu retten. Das ist die Rache des Wassers und des Windes; nun bin ich verloren. Ja, Rache ist es, denn wie oft haben wir diese Dinge angegriffen, ich und mein Freund der Beter, beim Singen unserer Klinge, unter dem Aufglanz der Cymbeln, der weiten Pracht der Posaunen und dem springenden Leuchten der Pauken.“

Eine kleine Möwe mit gestreckten Flügeln flog durch seinen Bauch, ohne daß ihre Schnelligkeit vermindert wurde.

Der Dicke erzählte weiter:

b. Begonnenes Gespräch mit dem Beter

Es gab eine Zeit, in der ich Tag um Tag in eine Kirche ging, denn ein Mädchen in das ich mich verliebt hatte betete dort kniend eine halbe Stunde am Abend, unterdessen ich sie in Ruhe betrachten konnte.

Als einmal das Mädchen nicht gekommen war und ich unwillig auf die Betenden blickte fiel mir ein junger Mensch auf, der sich mit seiner ganzen magern Gestalt auf den Boden geworfen hatte. Von Zeit zu Zeit packte er mit der ganzen Kraft seines Körpers seinen Schädel und schmetterte ihn seufzend in seine Handflächen, die auf den Steinen auflagen.

In der Kirche waren nur einige alte Weiber, die oft ihr eingewickeltes Köpfchen mit seitlicher Neigung drehten, um nach dem Betenden hinzusehn. Diese Aufmerksamkeit schien ihn glücklich zu machen, denn vor jedem seiner frommen Ausbrüche ließ er seine Augen umgehn, ob die zuschauenden Leute zahlreich wären.

Ich fand das ungebührlich und beschloß, ihn anzureden, wenn er aus der Kirche ginge und ihn auszufragen, warum er in dieser Weise bete. Ja, ich war ärgerlich, weil mein Mädchen nicht gekommen war.

Aber erst nach einer Stunde stand er auf, schlug ein ganz sorgfältiges Kreuz und ging stoßweise zum Becken. Ich stellte mich auf dem Wege zwischen Becken und Türe auf und wußte, daß ich ihn nicht ohne Erklärung durchlassen würde. Ich verzerrte meinen Mund, wie ich es immer als Vorbereitung tue, wenn ich mit Bestimmtheit reden will. Ich trat mit dem rechten Beine vor und stützte mich darauf, während ich das linke nachlässig auf der Fußspitze hielt; auch das gibt mir Festigkeit.

Nun ist es möglich, daß dieser Mensch schon auf mich schielte, als er das Weihwasser in sein Gesicht spritzte, vielleicht auch hatte er mich schon früher mit Besorgnis bemerkt, denn jetzt unerwartet rannte er zur Türe und hinaus. Die Glastür schlug zu. Und als ich gleich nachher aus der Türe trat, sah ich ihn nicht mehr, denn dort gab es einige schmale Gassen und der Verkehr war mannigfaltig.

In den nächsten Tagen blieb er aus, aber mein Mädchen kam. Sie war in dem schwarzen Kleide, welches auf den Schultern durchsichtige Spitzen hatte, – der Halbmond des Hemdrandes lag unter ihnen – von deren unterem Rande die Seide in einem wohlgeschnittenen Kragen niederhieng. Und da das Mädchen kam vergaß ich an den jungen Mann und selbst dann kümmerte ich mich nicht um ihn, als er später wieder regelmäßig kam und nach seiner Gewohnheit betete. Aber immer ging er mit großer Eile an mir vorüber, mit abgewendetem Gesichte. Vielleicht lag es daran, daß ich mir ihn immer nur in Bewegung denken konnte, so daß es mir, selbst wenn er stand, schien, als schleiche er.

Einmal verspätete ich mich in meinem Zimmer. Trotzdem ging ich noch in die Kirche. Ich fand das Mädchen nicht mehr dort und wollte nachhause gehn. Da lag dort wieder dieser junge Mensch. Die alte Begebenheit fiel mir jetzt ein und machte mich neugierig.

Auf den Fußspitzen glitt ich zum Türgang, gab dem blinden Bettler, der dort saß eine Münze und drückte mich neben ihn hinter den geöffneten Türflügel. Dort saß ich eine Stunde lang und machte vielleicht ein listiges Gesicht. Ich fühlte mich dort wohl und beschloß öfters herzukommen. In der zweiten Stunde aber fand ich es unsinnig hier wegen des Beters zu sitzen. Und dennoch ließ ich noch eine dritte Stunde schon zornig die Spinnen über meine Kleider kriechen, während die letzten Menschen lautatmend aus dem Dunkel der Kirche traten.

Da kam er auch. Er ging vorsichtig und seine Füße betasteten zuerst leichthin den Boden ehe sie auftraten.

Ich stand auf, machte einen großen und geraden Schritt und ergriff den jungen Menschen beim Kragen. „Guten Abend“, sagte ich und stieß ihn, meine Hand an seinem Kragen die Stufen hinunter auf den beleuchteten Platz.

Als wir unten waren sagte er mit einer völlig unbefestigten Stimme: „Guten Abend, lieber lieber Herr, zürnen Sie mir nicht Ihrem höchst ergebenen Diener.“

„Ja“, sagte ich, „ich will Sie einiges fragen mein Herr, voriges Mal entkamen Sie mir, das wird Ihnen heute kaum gelingen.“

„Sie sind mitleidig, mein Herr, und Sie werden mich nachhause gehen lassen. Ich bin bedauernswert, das ist die Wahrheit.“

„Nein“, schrie ich in den Lärm der vorüberfahrenden Straßenbahn, „ich lasse Sie nicht. Gerade solche Geschichten gefallen mir. Sie sind ein Glücksfang. Ich beglückwünsche mich.“

Da sagte er: „Ach, Gott, Sie haben ein lebhaftes Herz und einen Kopf aus einem Block. Sie nennen mich einen Glücksfang, wie glücklich müssen Sie sein! Denn mein Unglück ist ein schwankendes Unglück, ein auf einer dünnen Spitze schwankendes Unglück und berührt man es, so fällt es auf den Frager. Gute Nacht, mein Herr.“

„Gut“, sagte ich und hielt seine rechte Hand fest, „wenn Sie mir nicht antworten werden, werde ich hier auf der Gasse zu rufen anfangen. Und alle Ladenmädchen, die jetzt aus den Geschäften kommen und alle ihre Liebhaber, die sich auf sie freuen werden zusammenlaufen, denn sie werden glauben, ein Droschkenpferd sei gestürzt oder etwas dergleichen sei geschehn. Dann werde ich Sie den Leuten zeigen.“

Da küßte er weinend abwechselnd meine beiden Hände. „Ich werde Ihnen sagen, was Sie wissen wollen, aber bitte, gehn wir lieber in die Seitengasse drüben.“ Ich nickte und wir gingen hin.

Aber er begnügte sich nicht mit dem Dunkel der Gasse, in der nur weit von einander gelbe Laternen waren, sondern er führte mich in den niedrigen Flurgang eines alten Hauses unter ein Lämpchen, das vor der Holztreppe tropfend hing.

Dort nahm er wichtig sein Taschentuch und sagte es auf einer Stufe breitend: „Setzt Euch doch lieber Herr, da könnt Ihr besser fragen, ich bleibe stehn, da kann ich besser antworten. Quält mich aber nicht.“

Da setzte ich mich und sagte, indem ich mit schmalen Augen zu ihm aufblickte: „Ihr seid ein gelungener Tollhäusler, das seid Ihr! Wie benehmt Ihr Euch doch in der Kirche! Wie lächerlich ist das und wie unangenehm den Zuschauern! Wie kann man andächtig sein, wenn man Euch anschauen muß.“

Er hatte seinen Körper an die Mauer gepreßt, nur den Kopf bewegte er frei in der Luft. „Ärgert Euch nicht – warum sollt Ihr Euch ärgern über Sachen, die Euch nicht angehören. Ich ärgere mich, wenn ich mich ungeschickt benehme; benimmt sich aber nur ein anderer schlecht, dann freue ich mich. Also ärgert Euch nicht, wenn ich sage, daß es der Zweck meines Betens ist von den Leuten angeschaut zu werden.“

„Was sagtet Ihr da“, rief ich viel zu laut für den niedrigen Gang, aber ich fürchtete mich dann, die Stimme zu schwächen, „wirklich, was sagtet Ihr da. Ja, ich ahne schon, ja ich ahnte es schon, seit ich Euch zum erstenmal sah, in welchem Zustande Ihr seid. Ich habe Erfahrung und es ist nicht scherzend gemeint, wenn ich sage, daß es eine Seekrankheit auf festem Lande ist. Deren Wesen ist so, daß Ihr den wahrhaftigen Namen der Dinge vergessen habt und über sie jetzt in einer Eile zufällige Namen schüttet. Nur schnell, nur schnell! Aber kaum seid Ihr von ihnen weggelaufen, habt Ihr wieder ihre Namen vergessen. Die Pappel in den Feldern, die Ihr den >Turm von Babel< genannt habt, denn Ihr wußtet nicht oder wolltet nicht wissen, daß es eine Pappel war, schaukelt wieder namenlos und Ihr müßt sie nennen >Noah, wie er betrunken war<.“

Ich war ein wenig bestürzt, als er sagte: „Ich bin froh, daß ich das, was Ihr sagtet, nicht verstanden habe.“

Aufgeregt sagte ich rasch: „Dadurch daß Ihr froh seid darüber, zeigt Ihr, daß Ihr es verstanden habt.“

„Freilich habe ich es gezeigt, gnädiger Herr, aber auch Ihr habt merkwürdig gesprochen.“

Ich legte meine Hände auf eine obere Stufe, lehnte mich zurück und sagte in dieser fast unangreifbaren Haltung, welche die letzte Rettung der Ringkämpfer ist: „Ihr habt eine lustige Art Euch zu retten, indem Ihr Eueren Zustand bei den andern voraussetzt.“

Daraufhin wurde er mutig. Er legte die Hände in einander, um seinem Körper eine Einheit zu geben und sagte unter leichtem Widerstreben: „Nein, ich tue das doch nicht gegen alle, zum Beispiel auch gegen Euch nicht, weil ich es nicht kann. Aber ich wäre froh, wenn ich es könnte, denn dann hätte ich die Aufmerksamkeit der Leute in der Kirche nicht mehr nötig. Wisset Ihr, warum ich sie nötig habe?“

Diese Frage machte mich unbeholfen. Sicherlich, ich wußte es nicht und ich glaube ich wollte es auch nicht wissen. Ich hatte ja auch nicht hierherkommen wollen, sagte ich mir damals, aber der Mensch hat mich gezwungen, ihm zuzuhören. So brauchte ich ja jetzt bloß meinen Kopf zu schütteln, um ihm zu zeigen, daß ich es nicht wußte, aber ich konnte in meinen Kopf keine Bewegung bringen.

Der Mensch, welcher mir gegenüber stand, lächelte. Dann duckte er sich auf seine Knie nieder und erzählte mit schläfriger Grimasse: „Es hat niemals eine Zeit gegeben, in der ich durch mich selbst von meinem Leben überzeugt war. Ich erfasse nämlich die Dinge um mich nur in so hinfälligen Vorstellungen, daß ich immer glaube, die Dinge hätten einmal gelebt, jetzt aber seien sie versinkend. Immer, lieber Herr, habe ich eine so quälende Lust, die Dinge so zu sehn, wie sie sich geben mögen, ehe sie sich mir zeigen. Sie sind da wohl schön und ruhig. Es muß so sein, denn ich höre oft Leute in dieser Weise von ihnen reden.“

Da ich schwieg und nur durch unwillkürliche Zuckungen in meinem Gesichte zeigte, wie unbehaglich mir war, fragte er: „Sie glauben nicht daran, daß die Leute so reden?“

Ich glaubte nicken zu müssen, konnte es aber nicht.

„Wirklich, Sie glauben nicht daran Ach, hören Sie doch; als ich als Kind einmal nach einem kurzen Nachmittagsschlaf die Augen öffnete hörte ich noch ganz im Schlaf befangen meine Mutter in natürlichem Ton vom Balkon hinunterfragen: >Was machen Sie meine Liebe. Es ist so heiß.< Eine Frau antwortete aus dem Garten: >Ich jause im Grünen.< Sie sagten es ohne Nachdenken und nicht allzu deutlich, als müßte es jeder erwartet haben.“

Ich glaubte ich sei gefragt. Daher griff ich in die hintere Hosentasche und tat, als suche ich dort etwas. Aber ich suchte nichts, sondern ich wollte nur meinen Anblick verändern, um meine Teilnahme am Gespräch zu zeigen. Dabei sagte ich, daß dieser Vorfall so merkwürdig sei und daß ich ihn keineswegs begreife. Ich fügte auch hinzu, daß ich an dessen Wahrheit nicht glaube und daß er zu einem bestimmten Zweck, den ich gerade nicht einsehe, erfunden sein müsse. Dann schloß ich die Augen, denn sie schmerzten mich.

„Oh, das ist doch gut daß Ihr meiner Meinung seid und es war uneigennützig, daß Ihr mich angehalten habt, um mir das zu sagen.

Nicht wahr, warum sollte ich mich schämen – oder warum sollten wir uns schämen – daß ich nicht aufrecht und schwer gehe, nicht mit dem Stock auf das Pflaster schlage und nicht die Kleider der Leute streife, welche laut vorübergehn. Sollte ich nicht vielmehr mit Recht trotzig klagen dürfen, daß ich als Schatten mit eckigen Schultern die Häuser entlang hüpfe, manchmal in den Scheiben der Auslagsfenster verschwindend.

Was sind das für Tage die ich verbringe! Warum ist alles so schlecht gebaut, daß bisweilen hohe Häuser einstürzen, ohne daß man einen äußern Grund finden könnte. Ich klettere dann über die Schutthaufen und frage jeden, dem ich begegne: >Wie konnte das nur geschehn! In unserer Stadt. – Ein neues Haus – Das ist heute schon das fünfte. – Bedenken Sie doch. < Da kann mir keiner antworten.

Oft fallen Menschen auf der Gasse und bleiben tot liegen. Da öffnen alle Geschäftsleute ihre mit Waren verhangenen Türen, kommen gelenkig herbei, schaffen den Toten in ein Haus, kommen dann Lächeln in Mund und Augen heraus und reden: >Guten Tag – Der Himmel ist blaß – Ich verkaufe viele Kopftücher – Ja, der Krieg. < Ich hüpfe ins Haus und nachdem ich mehreremale die Hand mit dem gebogenen Finger furchtsam gehoben habe, klopfe ich endlich an dem Fensterchen des Hausmeisters. >Lieber Mann<, sage ich freundlich, >es wurde ein toter Mensch zu Ihnen gebracht. Zeigen Sie mir ihn, ich bitte Sie.< Und als er den Kopf schüttelt als wäre er unentschlossen, sage ich bestimmt: >Lieber Mann. Ich bin Geheimpolizist. Zeigen Sie mir gleich den Toten. < >Einen Toten<, fragt er jetzt und ist fast beleidigt. >Nein wir haben keinen Toten hier. Es ist ein anständiges Haus. < Ich grüße und gehe.

Dann aber wenn ich einen großen Platz zu durchqueren habe, vergesse ich an alles. Die Schwierigkeit dieses Unternehmens verwirrt mich und ich denke oft bei mir: >Wenn man so große Plätze nur aus Übermut baut, warum baut man nicht auch ein Steingeländer, das durch den Platz führen könnte. Heute bläst ein Südwestwind. Die Luft auf dem Platz ist aufgeregt. Die Spitze des Rathausturmes beschreibt kleine Kreise. Warum macht man nicht Ruhe in dem Gedränge? Was ist das doch für ein Lärm! Alle Fensterscheiben lärmen und die Laternenpfähle biegen sich wie Bambus. Der Mantel der heiligen Maria auf der Säule rundet sich und die stürmische Luft reißt an ihm. Sieht es denn niemand? Die Herren und Damen, die auf den Steinen gehen sollten, schweben. Wenn der Wind Atem holt, bleiben sie stehn, sagen einige Worte zu einander und verneigen sich grüßend, stößt aber der Wind wieder, können sie ihm nicht widerstehn und alle heben gleichzeitig ihre Füße. Zwar müssen sie fest ihre Hüte halten, aber ihre Augen schauen lustig, als wäre milde Witterung. Nur ich fürchte mich.<“

Mißhandelt, wie ich war sagte ich: „Die Geschichte die Sie früher erzählt haben von Ihrer Mutter und der Frau im Garten, finde ich gar nicht merkwürdig. Nicht nur daß ich viele derartige Geschichten gehört und erlebt habe, so habe ich sogar bei manchen mitgewirkt. Diese Sache ist doch ganz natürlich. Meinen Sie ich hätte, wenn ich am Balkon gewesen wäre, nicht dasselbe sagen können und aus dem Garten dasselbe antworten können? Ein so einfacher Vorfall.“

Als ich das gesagt hatte schien er sehr beglückt. Er sagte, daß ich hübsch gekleidet sei, und daß ihm meine Halsbinde sehr gefalle. Und was für eine feine Haut ich hätte. Und Geständnisse würden am klarsten, wenn man sie widerriefe.

c. Geschichte des Beters

Dann setzte er sich neben mich, denn ich war schüchtern geworden, ich hatte ihm Platz gemacht mit seitwärts geneigtem Kopfe. Trotzdem aber entging es mir nicht, daß auch er mit einer gewissen Verlegenheit dasaß, immer eine kleine Entfernung von mir zu bewahren suchte und mit Mühe sprach:

Was sind das für Tage, die ich verbringe!

Am gestrigen Abend war ich in einer Gesellschaft. Gerade verbeugte ich mich im Gaslicht vor einem Fräulein mit den Worten: „Ich freue mich tatsächlich, daß wir uns schon demri Winter nähern“ – gerade verbeugte ich mich mit diesen Worten als ich mit Unwillen bemerkte, daß sich mir der rechtefen Oberschenkel aus dem Gelenk gekugelt hatte. Auch die Kniescheibe hatte sich ein wenig gelockert.

Daher setzte ich mich und sagte, da ich immer einen Überblick über meine Sätze zu bewahren suche: „Denn der Winter ist viel müheloser; man kann sich leichter benehmen, man braucht sich mit seinen Worten nicht so anstrengen. Nicht wahr, liebes Fräulein? Ich habe hoffentlich Recht in dieser Sache.“ Dabei machte mir mein rechtes Bein viel Ärger. Denn anfangs schien es ganz auseinandergefallen zu sein und erst allmählich brachte ich es durch Quetschen und sinngemäßes Verschieben halbwegs in Ordnung.

Da hörte ich das Mädchen, das sich aus Mitgefühl auchgesetzt hatte, leise sagen: „Nein Sie imponieren mir gar nicht, denn –“

„Warten Sie“, sagte ich zufrieden und erwartungsvoll, „Sie sollen, liebes Fräulein, auch nicht fünf Minuten bloß dazu aufwenden, mit mir zu reden. Essen Sie doch zwischen den Worten, ich bitte Sie.“

Da streckte ich meinen Arm aus, nahm eine dickhängende Weintraube von der durch einen bronzenen Flügelknaben erhöhten Schüssel, hielt sie ein wenig in der Luft und legte sie dann auf einen kleinen blaurandigen Teller, den ich dem Mädchen vielleicht nicht ohne Zierlichkeit reichte.

„Sie imponieren mir gar nicht“, sagte sie, „alles was Sie sagen ist langweilig und unverständlich, aber deshalb noch nicht wahr. Ich glaube nämlich, mein Herr – warum nennen Sie mich immer liebes Fräulein – ich glaube, Sie geben sich nur deshalb nicht mit der Wahrheit ab, weil sie zu anstrengend ist.“

Gott, da kam ich in gute Lust! „Ja, Fräulein, Fräulein“, so rief ich fast, „wie recht haben Sie! Liebes Fräulein, verstehn Sie das, es ist eine aufgerissene Freude, wenn man so begriffen wird, ohne es darauf abgezielt zu haben.“

„Die Wahrheit ist nämlich zu anstrengend für Sie, mein Herr, denn wie sehn Sie doch aus! Sie sind Ihrer ganzen Länge nach aus Seidenpapier herausgeschnitten, aus gelbem Seidenpapier, so silhuettenartig und wenn Sie gehn, so muß man Sie knittern hören. Daher ist es auch unrecht sich über Ihre Haltung oder Meinung zu ereifern, denn Sie müssen sich nach dem Luftzug biegen, der gerade im Zimmer ist.“

„Ich verstehe das nicht. Es stehen ja einige Leute hier im Zimmer herum. Sie legen ihre Arme um die Rückenlehnen der Stühle oder sie lehnen sich ans Klavier oder sie heben ein Glas zögernd zum Munde oder sie gehn furchtsam ins Nebenzimmer und nachdem sie ihre rechte Schulter im Dunkel an einem Kasten verletzt haben, denken sie atmend bei dem geöffneten Fenster: Dort ist Venus, der Abendstern. Ich aber bin in dieser Gesellschaft. Wenn das einen Zusammenhang hat, so verstehe ich ihn nicht. Aber ich weiß nicht einmal, ob das einen Zusammenhang hat. – Und sehn Sie, liebes Fräulein, von allen diesen Leuten, die ihrer Unklarheit gemäß sich so unentschieden, ja lächerlich benehmen, scheine ich allein würdig ganz Klares über mich zu hören. Und damit auch das noch mit Angenehmem gefüllt sei, sagen sie es spöttisch, so daß merklich noch etwas übrig bleibt, wie es auch durch die wichtigen Mauern eines im Innern ausgebrannten Hauses geschieht. Der Blick wird jetzt kaum gehindert, man sieht bei Tag durch die großen Fensterlöcher die Wolken des Himmels und bei Nacht die Sterne. Aber noch sind die Wolken oft von grauen Steinen abgehauen und die Sterne bilden unnatürliche Bilder. – Wie wäre es, wenn ich Ihnen zum Dank dafür anvertraute, daß einmal alle Menschen, die leben wollen, so aussehn werden, wie ich; aus gelbem Seidenpapier, so silhuettenartig, herausgeschnitten, – wie Sie bemerkten – und wenn sie gehn, so wird man sie knittern hören. Sie werden nicht anders sein, als jetzt, aber sie werden so aussehn. Selbst Sie, liebes –“

Da bemerkte ich, daß das Mädchen nicht mehr neben mir saß. Sie mußte bald nach ihren letzten Worten weggegangen sein, denn sie stand jetzt weit von mir an einem Fenster umstellt von drei jungen Leuten, die aus hohen, weißen Krägen lachend redeten.

Ich trank darauf froh ein Glas Wein und ging zu dem Klavierspieler, der ganz abgesondert gerade ein trauriges Stück nickend spielte. Ich beugte mich vorsichtig zu seinem Ohr, damit er nur nicht erschrecke und sagte leise in der Melodie des Stückes:

„Haben Sie die Güte, geehrter Herr, und lassen Sie jetzt mich spielen, denn ich bin im Begriffe, glücklich zu sein.“

Da er auf mich nicht hörte, stand ich eine Zeitlang verlegen, ging dann aber meine Schüchternheit unterdrückend von einem der Gäste zum andern und sagte beiläufig: „Heute werde ich Klavier spielen. Ja.“

Alle schienen zu wissen, daß ich es nicht konnte, lachten aber freundlich wegen der angenehmen Unterbrechung ihrer Gespräche. Aber völlig aufmerksam wurden sie erst, als ich ganz laut zum Klavierspieler sagte: „Haben Sie die Güte, geehrter Herr und lassen Sie jetzt mich spielen. Ich bin nämlich im Begriffe glücklich zu sein. Es handelt sich um einen Triumph.“

Der Klavierspieler hörte zwar auf, aber er verließ seine braune Bank nicht und schien mich auch nicht zu verstehn. Er seufzte und verdeckte mit seinen langen Fingern sein Gesicht.

Schon war ich ein wenig mitleidig und wollte ihn wieder zum Spiel aufmuntern, als die Hausfrau mit einer Gruppe herbeikam.

„Das ist ein komischer Einfall“, sagten sie und lachten laut, als ob ich etwas Unnatürliches unternehmen wolle.

Das Mädchen kam auch hinzu, sah mich verächtlich an und sagte: „Bitte, gnädige Frau, lassen Sie ihn doch spielen. Er will vielleicht irgendwie zur Unterhaltung beitragen. Das ist zu loben. Bitte, gnädige Frau.“

Alle freuten sich laut, denn sie glaubten offenbar ebenso wie ich, das sei ironisch gemeint. Nur der Klavierspieler war stumm. Er hielt den Kopf gesenkt und strich mit dem Zeigefinger seiner linken Hand über das Holz der Bank, als zeichne er im Sande. Ich zitterte und steckte, um es zu verbergen, meine Hände in die Hosentaschen. Auch konnte ich nicht mehr deutlich reden, denn mein ganzes Gesicht wollte weinen. Daher mußte ich die Worte so wählen, daß den Zuhörern der Gedanke, ich wolle weinen, lächerlich vorkommen mußte.

„Gnädige Frau“, sagte ich, „ich muß jetzt spielen, denn –“ Da ich die Begründung vergessen hatte, setzte ich mich unvermutet zum Klavier. Da verstand ich wieder meine Lage. Der Klavierspieler stand auf und stieg zartfühlend über die Bank, denn ich versperrte ihm den Weg. „Löschen Sie das Licht, bitte, ich kann nur im Dunkel spielen.“ Ich richtete mich auf.

Da faßten zwei Herren die Bank und trugen mich sehr weit vom Piano weg zum Speisetisch hin, ein Lied pfeifend und mich ein wenig schaukelnd.

Alle sahen beifällig aus und das Fräulein sagte: „Sehn Sie, gnädige Frau, er hat ganz hübsch gespielt. Ich wußte es. Und Sie haben sich so gefürchtet.“

Ich begriff und bedankte mich durch eine Verbeugung, die ich gut ausführte.

Man goß mir Citronenlimonade ein und ein Fräulein mit roten Lippen hielt mir das Glas beim Trinken. Die Hausfrau reichte mir Schaumgebäck auf einem silbernen Teller und ein Mädchen in ganz weißem Kleid steckte es mir in den Mund. Ein üppiges Fräulein mit viel blondem Haar hielt eine Weintraube über mir und ich brauchte nur abzupfen, während sie mir dabei in meine zurückweichenden Augen sah.

Da mich alle so gut behandelten, wunderte ich mich freilich darüber, daß sie mich einmütig zurückhielten, als ich wieder zum Piano wollte.

„Nun ist es genug“, sagte der Hausherr, den ich bisher nicht bemerkt hatte. Er ging hinaus und kam gleich zurück mit einem ungeheuern Zylinderhut und einem geblümten kupferbraunen Überzieher. „Da sind Ihre Sachen.“

Es waren zwar nicht meine Sachen, aber ich wollte ihm nicht die Mühe bereiten, noch einmal nachzusehn. Der Hausherr selbst zog mir den Überzieher an, der genau paßte, indem er sich knapp an meinen dünnen Körper anpreßte. Eine Dame mit gütigem Gesicht knöpfte, sich allmählich bückend, den Rock der ganzen Länge nach zu.

„Also leben Sie wohl“, sagte die Hausfrau, „und kommen Sie bald wieder. Sie sind immer gerne gesehn, das wissen Sie.“ Da verbeugte sich die ganze Gesellschaft, als ob das so nötig wäre. Ich versuchte es auch, aber mein Rock war zu anliegend. So nahm ich meinen Hut und ging wohl zu linkisch aus der Türe.

Aber als ich aus dem Haustor mit kleinem Schritte trat, wurde ich von dem Himmel mit Mond und Sternen und großer Wölbung und von dem Ringplatz mit Rathaus, Mariensäule und Kirche überfallen.

Ich ging ruhig aus dem Schatten ins Mondlicht, knöpfte den Überzieher auf und wärmte mich; dann ließ ich durch Erheben der Hände das Sausen der Nacht schweigen und fieng zu überlegen an:

„Was ist es doch, daß Ihr tut, als wenn Ihr wirklich wäret. Wollt Ihr mich glauben machen, daß ich unwirklich bin, komisch auf dem grünen Pflaster stehend. Aber doch ist es schon lange her, daß Du wirklich warst, Du Himmel und Du Ringplatz bist niemals wirklich gewesen.“

„Es ist ja wahr noch immer seid Ihr mir überlegen, aber doch nur dann, wenn ich Euch in Ruhe lasse.“

„Gott sei Dank, Mond, Du bist nicht mehr Mond, aber vielleicht ist es nachlässig von mir daß ich Dich Mondbenannten noch immer Mond nenne. Warum bist Du nicht mehr so übermütig, wenn ich Dich nenne >vergessene Papierlaterne in merkwürdiger Farbe<. Und warum ziehst Du Dich fast zurück, wenn ich Dich >Mariensäule< nenne und ich erkenne Deine drohende Haltung nicht mehr Mariensäule, wenn ich Dich nenne >Mond, der gelbes Licht wirft<.“

„Es scheint nun wirklich, daß es Euch nicht gut tut, wenn man über Euch nachdenkt; Ihr nehmet ab an Mut und Gesundheit.“

„Gott, wie zuträglich muß es erst sein, wenn Nachdenkender vom Betrunkenen lernt!“

„Warum ist alles still geworden. Ich glaube es ist kein Wind mehr. Und die Häuschen, die oft wie auf kleinen Rädern über den Platz rollen, sind ganz festgestampft – Still – still – man sieht gar nicht den dünnen schwarzen Strich, der sie sonst vom Boden trennt.“

Und ich setzte mich in Lauf. Ich lief ohne Hindernis dreimal um den großen Platz herum und da ich keinen Betrunkenen traf, lief ich ohne die Schnelligkeit zu unterbrechen und ohne Anstrengung zu verspüren gegen die Karlsgasse. Mein Schatten lief oft kleiner als ich neben mir an der Wand, wie in einem Hohlweg zwischen Mauer und Straßengrund.

Als ich bei dem Haus der Feuerwehr vorüberkam, hörte ich vom kleinen Ring her Lärm und als ich dort einbog, sah ich einen Betrunkenen am Gitterwerk des Brunnens stehn, die Arme wagrecht haltend und mit den Füßen, die in Holzpantoffeln staken auf die Erde stampfend.

Ich blieb zuerst stehn, um meine Atmung ruhig werden zu lassen, dann ging ich zu ihm, nahm meinen Cylinder vom Kopfe und stellte mich vor:

„Guten Abend, zarter Edelmann, ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, aber ich habe noch keinen Namen. Sie aber kommen sicher mit erstaunlichen, ja mit singbaren Namen aus dieser großen Stadt Paris. Der ganz unnatürliche Geruch des ausgleitenden Hofes von Frankreich umgibt Sie.“

„Sicher haben Sie mit Ihren gefärbten Augen jene großen Damen gesehn, die schon auf der hohen und lichten Terasse stehn, sich in schmaler Taille ironisch umwendend, während das Ende ihrer auch auf der Treppe ausgebreiteten bemalten Schleppe noch über dem Sand des Gartens liegt. – Nicht wahr auf lange Stangen, überall verteilt, steigen Diener in grauen frech geschnittenen Fräcken und weißen Hosen, die Beine um die Stange gelegt, den Oberkörper aber oft nach hinten und zur Seite gebogen, denn sie müssen an dicken Stricken riesige graue Leinwandtücher von der Erde heben und in der Höhe spannen, weil die große Dame einen nebligen Morgen wünscht.“

Da er sich rülpste, sagte ich fast erschrocken: „Wirklich, ist es wahr, Sie kommen Herr aus unserem Paris, aus dem stürmischen Paris, ach, aus diesem schwärmerischen Hagelwetter?“

Als er sich wieder rülpste, sagte ich verlegen: „Ich weiß, es widerfährt mir eine große Ehre.“

Und ich knöpfte mit raschen Fingern meinen Überzieher zu, dann redete ich inbrünstig und schüchtern:

„Ich weiß, Sie halten mich einer Antwort nicht für würdig, aber ich müßte ein verweintes Leben führen, wenn ich Sie heute nicht fragte.“

„Ich bitte Sie, so geschmückter Herr, ist das wahr, was man mir erzählt hat. Giebt es in Paris Menschen, die nur aus verzierten Kleidern bestehn und gibt es dort Häuser die bloß Portale haben und ist es wahr, daß an Sommertagen der Himmel über der Stadt fliehend blau ist, nur verschönt durch angepreßte weiße Wölkchen, die alle die Form von Herzen haben? Und gibt es dort ein Panoptikum mit großem Zulauf, in dem bloß Bäume stehn mit den Namen der berühmtesten Helden, Verbrecher und Verliebten auf kleinen angehängten Tafeln.“

„Und dann noch diese Nachricht! Diese offenbar lügnerische Nachricht!“

„Nicht wahr, diese Straßen von Paris sind plötzlich verzweigt; sie sind unruhig, nicht wahr? Es ist nicht immer alles in Ordnung, wie könnte das auch sein! Es geschieht einmal ein Unfall, Leute sammeln sich, aus den Nebenstraßen kommend mit dem großstädtischen Schritt, der das Pflaster nur wenig berührt; alle sind zwar in Neugierde, aber auch in Furcht vor Enttäuschung; sie atmen schnell und strecken ihre kleinen Köpfe vor. Wenn sie aber einander berühren, so verbeugen sie sich tief und bitten um Verzeihung: >Es tut mir sehr leid – es geschah ohne Absicht – das Gedränge ist groß, verzeihen Sie, ich bitte – es war sehr ungeschickt von mir – ich gebe das zu. Mein Name ist – mein Name ist Jerome Faroche, Gewürzkrämer bin ich in der rue de Cabotin–gestatten Sie,daß ich Sie für morgen zum Mittagessen einlade – auch meine Frau würde so große Freude haben.< So reden sie, während doch die Gasse betäubt ist und der Rauch der Schornsteine zwischen die Häuser fällt. So ist es doch. Und wäre es möglich, daß da einmal auf einem belebten Boulevard eines vornehmen Viertels zwei Wagen halten. Diener öffnen ernst die Türen. Acht edle sibirische Wolfshunde tänzeln hinunter und jagen bellend über die Fahrbahn in Sprüngen. Und da sagt man, daß es verkleidete, junge Pariser Stutzer sind.“

Er hatte die Augen fast geschlossen. Als ich schwieg, steckte er beide Hände in den Mund und riß am Unterkiefer. Sein Kleid war ganz beschmutzt. Man hatte ihn vielleicht aus einer Weinstube hinausgeworfen und er war darüber noch nicht im Klaren.

Es war vielleicht diese kleine, ganz ruhige Pause zwischen Tag und Nacht, wo uns der Kopf, ohne daß wir es erwarten im Genicke hängt und wo alles, ohne daß wir es merken, still steht, da wir es nicht betrachten und dann verschwindet. Während wir mit gebogenem Leib allein bleiben, uns dann umschaun, aber nichts mehr sehn, auch keinen Widerstand der Luft mehr fühlen, aber innerlich uns an der Erinnerung halten, daß in gewissem Abstand von uns Häuser stehn mit Dächern und glücklicherweise eckigen Schornsteinen, durch die das Dunkel in die Häuser fließt, durch die Dachkammern in die verschiedenartigen Zimmer. Und es ist ein Glück, daß morgen ein Tag sein wird, an dem, so unglaublich es ist, man alles wird sehen können.

Da riß der Betrunkene seine Augenbrauen hoch, so daß zwischen ihnen und den Augen ein Glanz entstand und erklärte in Absätzen: „Das ist so nämlich – ich bin nämlich schläfrig, daher werde ich schlafen gehn – Ich habe nämlich einen Schwager am Wenzelsplatz – dorthin geh ich, denn dort wohne ich, denn dort habe ich mein Bett – so geh ich jetzt – Ich weiß nämlich nur nicht wie er heißt und wo er wohnt – mir scheint, das habe ich vergessen – aber das macht nichts, denn ich weiß ja nicht einmal, ob ich überhaupt einen Schwager habe – Jetzt gehe ich nämlich – Glauben Sie, daß ich ihn finden werde?“

Darauf sagte ich ohne Bedenken: „Das ist sicher. Aber Sie kommen aus der Fremde und Ihre Dienerschaft ist zufällig nicht bei Ihnen. Gestatten Sie, daß ich Sie führe.“

Er antwortete nicht. Da reichte ich ihm meinen Arm, damit er sich einhänge.

d. Fortgesetztes Gespräch zwischen dem Dicken und dem Beter

Ich aber versuchte schon eine Zeitlang mich aufzumuntern. Ich rieb meinen Körper und sagte zu mir:

„Es ist Zeit, daß Du sprichst. Du bist ja schon verlegen. Fühlst Du Dich bedrängt? Warte doch! Du kennst ja diese Lagen. Überlege es ohne Eile! Auch die Umgebung wird warten.“

„Es ist so wie in der Gesellschaft der vorigen Woche. Jemand liest aus einer Abschrift etwas vor. Eine Seite habe ich auf seine Bitte selbst abgeschrieben. Wie ich die Schrift unter den von ihm geschriebenen Seiten lese, erschrecke ich. Es ist haltlos. Die Leute beugen sich darüber von den drei Seiten des Tisches her. Ich schwöre weinend, es sei nicht meine Schrift.“

„Aber warum sollte das dem Heutigen ähnlich sein. Es liegt doch nur an Dir daß ein eingezäuntes Gespräch entsteht. Alles ist friedlich. Strenge Dich doch an, mein Lieber! – Du wirst doch einen Einwand finden. – Du kannst sagen: ‚Ich bin schläfrig. Ich habe Kopfschmerzen. Adieu.‘ Rasch, also rasch. Mach Dich bemerkbar! – Was ist das? Wieder Hindernisse und Hindernisse Woran erinnerst Du Dich? – Ich erinnere mich an eine Hochebene die sich gegen den großen Himmel als ein Schild der Erde hob. Ich sah sie von einem Berge und machte mich bereit sie zu durchwandern. Ich fieng zu singen an.“

Meine Lippen waren trocken und ungehorsam, als ich sagte:

„Sollte man nicht anders leben können?“

„Nein“, sagte er fragend, lächelnd.

„Aber warum beten Sie am Abend in der Kirche“, fragte ich dann, indem alles zwischen mir und ihm zusammenfiel, was ich bis dahin wie schlafend gestützt hatte.

„Nein, warum sollten wir darüber reden. Am Abend trägt niemand, der allein lebt Verantwortung. Man fürchtet manches. Daß vielleicht die Körperlichkeit entschwindet, daß die Menschen wirklich so sind wie sie in der Dämmerung scheinen, daß man ohne Stock nicht gehen dürfe, daß es vielleicht gut wäre in die Kirche zu gehn und schreiend zu beten um angeschaut zu werden und Körper zu bekommen.“

Da er so redete und dann schwieg, zog ich mein rotes Taschentuch aus der Tasche und weinte gebückt.

Er stand auf, küßte mich und sagte:

„Warum weinst Du? Du bist groß, das liebe ich, Du hast lange Hände, die sich fast nach Deinem Willen aufführen; warum freust Du Dich nicht darüber. Trage immer dunkelfarbige Ärmelränder, das rate ich Dir. – Nein – ich schmeichle Dir und dennoch weinst Du? Diese Schwierigkeit des Lebens trägst Du doch ganz vernünftig.“

„Wir bauen eigentlich unbrauchbare Kriegsmaschinen, Türme, Mauern, Vorhänge aus Seide und wir könnten uns viel darüber wundern, wenn wir Zeit dazu hätten. Und erhalten uns in Schwebe, wir fallen nicht, wir flattern, wenn wir auch häßlicher sind als Fledermäuse. Und schon kann uns kaum jemand an einem schönen Tage hindern zu sagen: ‚Ach Gott heute ist ein schöner Tag.‘ Denn schon sind wir auf unserer Erde eingerichtet und leben auf Grund unseres Einverständnisses.“

„Wir sind nämlich so wie Baumstämme im Schnee. Sie liegen doch scheinbar nur glatt auf und man sollte sie mit kleinem Anstoß wegschieben können. Aber nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist bloß scheinbar.“

Nachdenken hinderte mich am Weinen: „Es ist Nacht und niemand wird mir morgen vorhalten, was ich jetzt sagen könnte, denn es kann ja im Schlaf gesprochen sein.“

Dann sagte ich: „Ja, das ist es, aber wovon redeten wir doch. Wir konnten doch nicht von der Beleuchtung des Himmels reden da wir doch in der Tiefe einer Hausflur stehn. Nein – doch wir hätten davon reden können, denn sind wir in unserem Gespräch nicht ganz unabhängig, da wir nicht Zweck noch Wahrheit erreichen wollen, sondern nur Scherz und Unterhaltung. Aber könnten Sie mir nicht dennoch die Geschichte von der Frau im Garten noch einmal erzählen. Wie bewunderungswürdig, wie klug ist diese Frau! Wir müssen uns nach ihrem Beispiel benehmen. Wie gern habe ich sie! Und dann ist es auch gut, daß ich Sie getroffen und so abgefangen habe. Es war für mich ein großes Vergnügen mit Ihnen gesprochen zu haben. Ich habe einiges mir bisher vielleicht absichtlich unbekannte gehört – ich freue mich.“

Er sah zufrieden aus. Trotzdem mir die Berührung mit einem menschlichen Körper immer peinlich ist, mußte ich ihn umarmen.

Dann traten wir aus dem Gang unter den Himmel. Einige zerstoßene Wölkchen blies mein Freund weg, so daß sich jetzt die ununterbrochene Fläche der Sterne uns darbot. Mein Freund ging mühsam.