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VI.

〈Anwendungen der Psychoanalyse auf Literatur, Kunst, Religionspsychologie〉

Ich verfolge jetzt aus der Ferne, unter welchen Reaktionssymptomen sich der Einzug der Psychoanalyse in das lang refraktäre Frankreich vollzieht. Es wirkt wie eine Reproduktion von früher Erlebtem, hat aber doch auch seine besonderen Züge. Einwendungen von unglaublicher Einfalt werden laut, wie der, das französische Feingefühl nehme Anstoß an der Pedanterie und Plumpheit der psychoanalytischen Namengebungen (man muß dabei doch an Lessings unsterblichen Chevalier Riccaut de la Marlinière denken!). Eine andere Äußerung klingt ernsthafter; sie ist selbst einem Professor der Psychologie an der Sorbonne nicht unwürdig erschienen: das Génie latin vertrage überhaupt nicht die Denkungsart der Psychoanalyse. Dabei werden die anglosächsischen Alliierten, die als ihre Anhänger gelten, ausdrücklich preisgegeben. Wer das hört, muß natürlich glauben, das Génie teutonique habe die Psychoanalyse gleich nach ihrer Geburt als sein liebstes Kind ans Herz gedrückt.

In Frankreich ist das Interesse an der Psychoanalyse von den Männern der schönen Literatur ausgegangen. Um das zu verstehen, muß man sich erinnern, daß die Psychoanalyse mit der Traumdeutung die Grenzen einer rein ärztlichen Angelegenheit überschritten hat. Zwischen ihrem Auftreten in Deutschland und nun in Frankreich liegen ihre mannigfachen Anwendungen auf Gebiete der Literatur und Kunstwissenschaft, auf Religionsgeschichte und Prähistorie, auf Mythologie, Volkskunde, Pädagogik usw. Alle diese Dinge haben mit der Medizin wenig zu tun, sind mit ihr eben nur durch die Vermittlung der Psychoanalyse verknüpft. Ich habe darum kein Anrecht, sie an dieser Stelle eingehend zu behandeln. Ich kann sie aber auch nicht ganz vernachlässigen, denn einerseits sind sie unerläßlich, um die richtige Vorstellung vom Wert und Wesen der Psychoanalyse zu geben, andererseits habe ich mich ja der Aufgabe unterzogen, mein eigenes Lebenswerk darzustellen. Von den meisten dieser Anwendungen gehen die Anfänge auf meine Arbeiten zurück. Hier und da habe ich wohl auch einen Schritt vom Wege getan, um ein solches außerärztliches Interesse zu befriedigen. Andere, nicht nur Ärzte, sondern auch Fachmänner, sind dann meiner Wegspur nachgefolgt und weit in die betreffenden Gebiete eingedrungen. Da ich mich aber meinem Programm gemäß auf den Bericht über meine eigenen Beiträge zur Anwendung der Psychoanalyse beschränken werde, kann ich dem Leser nur ein ganz unzureichendes Bild von deren Ausdehnung und Bedeutung ermöglichen.

Eine Reihe von Anregungen ging für mich vom Ödipus-Komplex aus, dessen Ubiquität ich allmählich erkannte. War schon immer die Wahl, ja die Schöpfung des grauenhaften Stoffes rätselhaft gewesen, die erschütternde Wirkung seiner poetischen Darstellung und das Wesen der Schicksalstragödie überhaupt, so erklärte sich dies alles durch die Einsicht, daß hier eine Gesetzmäßigkeit des seelischen Geschehens in ihrer vollen affektiven Bedeutung erfaßt worden war. Verhängnis und Orakel waren nur die Materialisationen der inneren Notwendigkeit; daß der Held ohne sein Wissen und gegen seine Absicht sündigte, verstand sich als der richtige Ausdruck der unbewußten Natur seiner verbrecherischen Strebungen. Vom Verständnis dieser Schicksalstragödie war dann nur ein Schritt bis zur Aufhellung der Charaktertragödie des Hamlet, die man seit dreihundert Jahren bewunderte, ohne ihren Sinn angeben und die Motive des Dichters erraten zu können. Es war doch merkwürdig, daß dieser vom Dichter erschaffene Neurotiker am Ödipus-Komplex scheitert wie seine zahlreichen Gefährten in der realen Welt, denn Hamlet ist vor die Aufgabe gestellt, an einem anderen die beiden Taten zu rächen, die den Inhalt des Ödipusstrebens bilden, wobei ihm sein eigenes dunkles Schuldgefühl lähmend in den Arm fallen darf. Der Hamlet ist von Shakespeare sehr bald nach dem Tode seines Vaters geschrieben worden.1 Meine Andeutungen zur Analyse dieses Trauerspieles haben später durch Ernest Jones eine gründliche Ausarbeitung erfahren. Dasselbe Beispiel nahm dann Otto Rank zum Ausgangspunkt seiner Untersuchungen über die Stoffwahl der dramatischen Dichter. In seinem großen Buche über das „Inzest-Motiv“ konnte er zeigen, wie häufig die Dichter gerade die Motive der Ödipussituation zur Darstellung wählen, und die Wandlungen, Abänderungen und Milderungen des Stoffes durch die Weltliteratur verfolgen.

Es lag nahe, von da aus die Analyse des dichterischen und künstlerischen Schaffens überhaupt in Angriff zu nehmen. Man erkannte, daß das Reich der Phantasie eine „Schonung“ war, die beim schmerzlich empfundenen Übergang vom Lust- zum Realitätsprinzip eingerichtet wurde, um einen Ersatz für Triebbefriedigung zu gestatten, auf die man im wirklichen Leben hatte verzichten müssen. Der Künstler hatte sich wie der Neurotiker von der unbefriedigenden Wirklichkeit in diese Phantasiewelt zurückgezogen, aber anders als der Neurotiker verstand er den Rückweg aus ihr zu finden und in der Wirklichkeit wieder festen Fuß zu fassen. Seine Schöpfungen, die Kunstwerke, waren Phantasiebefriedigungen unbewußter Wünsche, ganz wie die Träume, mit denen sie auch den Charakter des Kompromisses gemein hatten, denn auch sie mußten den offenen Konflikt mit den Mächten der Verdrängung vermeiden. Aber zum Unterschied von den asozialen, narzißtischen Traumproduktionen waren sie auf die Anteilnahme anderer Menschen berechnet, konnten bei diesen die nämlichen unbewußten Wunschregungen beleben und befriedigen. Überdies bedienten sie sich der Wahrnehmungslust der Formschönheit als „Verlockungsprämie“. Was die Psychoanalyse leisten konnte, war, aus der Aufeinanderbeziehung der Lebenseindrücke, zufälligen Schicksale und der Werke des Künstlers seine Konstitution und die in ihr wirksamen Triebregungen, also das allgemein Menschliche an ihm, zu konstruieren. In solcher Absicht habe ich z. B. Leonardo da Vinci zum Gegenstand einer Studie genommen, die auf einer einzigen, von ihm mitgeteilten Kindheitserinnerung ruht und im wesentlichen auf die Erklärung seines Bildes „Die heilige Anna selbdritt“ hinzielt. Meine Freunde und Schüler haben dann zahlreiche ähnliche Analysen an Künstlern und ihren Werken unternommen. Es ist nicht eingetroffen, daß der Genuß am Kunstwerk durch das so gewonnene analytische Verständnis geschädigt wird. Dem Laien, der aber hier vielleicht von der Analyse zuviel erwartet, muß eingestanden werden, daß sie auf zwei Probleme kein Licht wirft, die ihn wahrscheinlich am meisten interessieren. Die Analyse kann nichts zur Aufklärung der künstlerischen Begabung sagen, und auch die Aufdeckung der Mittel, mit denen der Künstler arbeitet, der künstlerischen Technik, fällt ihr nicht zu.

An einer kleinen, an sich nicht besonders wertvollen Novelle, der „Gradiva“ von W. Jensen, konnte ich nachweisen, daß erdichtete Träume dieselben Deutungen zulassen wie reale, daß also in der Produktion des Dichters die uns aus der Traumarbeit bekannten Mechanismen des Unbewußten wirksam sind.

Mein Buch über den „Witz und seine Beziehung zum Unbewußten“ ist direkt ein Seitensprung von der „Traumdeutung“ her. Der einzige Freund, der damals an meinen Arbeiten Anteil nahm, hatte mir bemerkt, daß meine Traumdeutungen häufig einen „witzigen“ Eindruck machten. Um diesen Eindruck aufzuklären, nahm ich die Untersuchung der Witze vor und fand, das Wesen des Witzes liege in seinen technischen Mitteln, diese seien aber dieselben wie die Arbeitsweisen der „Traumarbeit“, also Verdichtung, Verschiebung, Darstellung durch das Gegenteil, durch ein Kleinstes usw. Daran schloß sich die ökonomische Untersuchung, wie der hohe Lustgewinn beim Hörer des Witzes zustande komme. Die Antwort war: durch momentane Aufhebung von Verdrängungsaufwand nach der Verlockung durch eine dargebotene Lustprämie (Vorlust).

Höher schätze ich selbst meine Beiträge zur Religionspsychologie ein, die 1907 mit der Feststellung einer überraschenden Ähnlichkeit zwischen Zwangshandlungen und Religionsübungen (Ritus) begannen. Ohne noch die tieferen Zusammenhänge zu kennen, bezeichnete ich die Zwangsneurose als eine verzerrte Privatreligion, die Religion sozusagen als eine universelle Zwangsneurose. Später, 1912, wurde der nachdrückliche Hinweis von Jung auf die weitgehenden Analogien zwischen den geistigen Produktionen der Neurotiker und der Primitiven mir zum Anlaß, meine Aufmerksamkeit diesem Thema zuzuwenden. In den vier Aufsätzen, welche zu einem Buch mit dem Titel „Totem und Tabu“ zusammengefaßt wurden, führte ich aus, daß bei den Primitiven die Inzestscheu noch stärker ausgeprägt ist als bei den Kultivierten und ganz besondere Abwehrmaßregeln hervorgerufen hat, untersuchte die Beziehungen der Tabuverbote, in welcher Form die ersten Moraleinschränkungen auftreten, zur Gefühlsambivalenz und deckte im primitiven Weltsystem des Animismus das Prinzip der Überschätzung der seelischen Realität, der „Allmacht der Gedanken“ auf, welches auch der Magie zugrunde liegt. Überall wurde die Vergleichung mit der Zwangsneurose durchgeführt und gezeigt, wie viel von den Voraussetzungen des primitiven Geisteslebens bei dieser merkwürdigen Affektion noch in Kraft ist. Vor allem zog mich aber der Totemismus an, dies erste Organisationssystem primitiver Stämme, in dem die Anfänge sozialer Ordnung mit einer rudimentären Religion und der unerbittlichen Herrschaft einiger weniger Tabuverbote vereinigt sind. Das „verehrte“ Wesen ist hier ursprünglich immer ein Tier, von dem der Clan auch abzustammen behauptet. Aus verschiedenen Anzeichen wird erschlossen, daß alle, auch die höchststehenden Völker, einst dieses Stadium des Totemismus durchgemacht haben.

Meine literarische Hauptquelle für die Arbeiten auf diesem Gebiete waren die bekannten Werke von J. G. Frazer („Totemism and Exogamy“, „The Golden Bough“), eine Fundgrube wertvoller Tatsachen und Gesichtspunkte. Aber zur Aufklärung der Probleme des Totemismus leistete Frazer wenig; er hatte seine Ansicht über diesen Gegenstand mehrmals grundstürzend verändert, und die anderen Ethnologen und Prähistoriker schienen ebenso unsicher als uneinig in diesen Dingen. Mein Ausgangspunkt war die auffällige Übereinstimmung der beiden Tabusatzungen des Totemismus, den Totem nicht zu töten und kein Weib des gleichen Totemclans geschlechtlich zu gebrauchen, mit den beiden Inhalten des Ödipus-Komplexes, den Vater zu beseitigen und die Mutter zum Weibe zu nehmen. Es ergab sich so die Versuchung, das Totemtier dem Vater gleichzustellen, wie es die Primitiven ohnedies ausdrücklich taten, indem sie es als den Ahnherrn des Clans verehrten. Von psychoanalytischer Seite kamen mir dann zwei Tatsachen zu Hilfe, eine glückliche Beobachtung Ferenczis am Kinde, welche gestattete, von einer infantilen Wiederkehr des Totemismus zu sprechen, und die Analyse der frühen Tierphobien der Kinder, welche so oft zeigte, daß dies Tier ein Vaterersatz war, auf welchen die im Ödipus-Komplex begründete Furcht vor dem Vater verschoben wurde. Es fehlte nun nicht mehr viel, um die Vatertötung als Kern des Totemismus und als Ausgangspunkt der Religionsbildung zu erkennen.

Dies fehlende Stück kam durch die Kenntnisnahme von W. Robertson Smiths Werk „The Religion of the Semites“ hinzu — der geniale Mann, Physiker und Bibelforscher, hatte als ein wesentliches Stück der Totemreligion die sogenannte Totemmahlzeit hingestellt. Einmal im Jahre wurde das sonst heiliggehaltene Totemtier feierlich unter Beteiligung aller Stammesgenossen getötet, verzehrt und dann betrauert. An diese Trauer schloß sich ein großes Fest an. Nahm ich die Darwinsche Vermutung hinzu, daß die Menschen ursprünglich in Horden lebten, deren jede unter der Herrschaft eines einzigen, starken, gewalttätigen und eifersüchtigen Männchens stand, so gestaltete sich mir aus all diesen Komponenten die Hypothese, oder ich möchte lieber sagen: die Vision, des folgenden Hergangs: Der Vater der Urhorde hatte als unumschränkter Despot alle Frauen für sich in Anspruch genommen, die als Rivalen gefährlichen Söhne getötet oder verjagt. Eines Tages aber taten sich diese Söhne zusammen, überwältigten, töteten und verzehrten ihn gemeinsam, der ihr Feind, aber auch ihr Ideal gewesen war. Nach der Tat waren sie außerstande, sein Erbe anzutreten, da einer dem anderen im Wege stand. Unter dem Einfluß des Mißerfolges und der Reue lernten sie, sich miteinander zu vertragen, banden sich zu einem Brüderclan durch die Satzungen des Totemismus, welche die Wiederholung einer solchen Tat ausschließen sollten, und verzichteten insgesamt auf den Besitz der Frauen, um welche sie den Vater getötet hatten. Sie waren nun auf fremde Frauen angewiesen; dies der Ursprung der mit dem Totemismus eng verknüpften Exogamie. Die Totemmahlzeit war die Gedächtnisfeier der ungeheuerlichen Tat, von der das Schuldbewußtsein der Menschheit (die Erbsünde) herrührte, mit der soziale Organisation, Religion und sittliche Beschränkung gleichzeitig ihren Anfang nahmen.

Ob nun eine solche Möglichkeit als historisch anzunehmen ist oder nicht, die Religionsbildung war hiemit auf den Boden des Vaterkomplexes gestellt und über der Ambivalenz aufgebaut, welche diesen beherrscht. Nachdem der Vaterersatz durch das Totemtier verlassen war, wurde der gefürchtete und gehaßte, verehrte und beneidete Urvater selbst das Vorbild Gottes. Der Sohnestrotz und seine Vatersehnsucht rangen miteinander in immer neuen Kompromißbildungen, durch welche einerseits die Tat des Vatermordes gesühnt, andererseits deren Gewinn behauptet werden sollte. Ein besonders helles Licht wirft diese Auffassung der Religion auf die psychologische Fundierung des Christentums, in dem ja die Zeremonie der Totemmahlzeit noch wenig entstellt als Kommunion fortlebt. Ich will ausdrücklich bemerken, daß diese letztere Agnoszierung nicht von mir herrührt, sondern sich bereits bei Robertson Smith und Frazer findet.

Th. Reik und der Ethnologe G. Róheim haben in zahlreichen beachtenswerten Arbeiten an die Gedankengänge von „Totem und Tabu“ angeknüpft, sie fortgeführt, vertieft oder berichtigt. Ich selbst bin später noch einige Male auf sie zurückgekommen, bei Untersuchungen über das „unbewußte Schuldgefühl“, dem auch unter den Motiven des neurotischen Leidens eine so große Bedeutung zukommt, und bei Bemühungen, die soziale Psychologie enger an die Psychologie des Individuums zu binden („Das Ich und das Es“ — „Massenpsychologie und Ich-Analyse“). Auch zur Erklärung der Hypnotisierbarkeit habe ich die archaische Erbschaft aus der Urhordenzeit der Menschen herangezogen.

Gering ist mein direkter Anteil an anderen Anwendungen der Psychoanalyse, die doch des allgemeinsten Interesses würdig sind. Von den Phantasien des einzelnen Neurotikers führt ein breiter Weg zu den Phantasieschöpfungen der Massen und Völker, wie sie in den Mythen, Sagen und Märchen zutage liegen. Die Mythologie ist das Arbeitsgebiet von Otto Rank geworden, die Deutung der Mythen, ihre Zurückführung auf die bekannten unbewußten Kindheitskomplexe, der Ersatz astraler Erklärungen durch menschliche Motivierung war in vielen Fällen der Erfolg seiner analytischen Bemühung. Auch das Thema der Symbolik hat zahlreiche Bearbeiter in meinen Kreisen gefunden. Die Symbolik hat der Psychoanalyse viel Feindschaften eingetragen; manche allzu nüchterne Forscher haben ihr die Anerkennung der Symbolik, wie sie sich aus der Deutung der Träume ergab, niemals verzeihen können. Aber die Analyse ist an der Entdeckung der Symbolik unschuldig, sie war auf anderen Gebieten längst bekannt und spielt dort (Folklore, Sage, Mythus) selbst eine größere Rolle als in der „Sprache des Traumes“.

Zur Anwendung der Analyse auf die Pädagogik habe ich persönlich nichts beigetragen; aber es war natürlich, daß die analytischen Ermittlungen über das Sexualleben und die seelische Entwicklung der Kinder die Aufmerksamkeit der Erzieher auf sich zogen und sie ihre Aufgaben in einem neuen Lichte sehen ließen. Als unermüdlicher Vorkämpfer dieser Richtung in der Pädagogik hat sich der protestantische Pfarrer O. Pfister in Zürich hervorgetan, der die Pflege der Analyse auch mit dem Festhalten an einer allerdings sublimierten Religiosität vereinbar fand; neben ihm Frau Dr. Hug-Hellmuth und Dr. S. Bernfeld in Wien sowie viele andere. Aus der Verwendung der Analyse zur vorbeugenden Erziehung des gesunden und zur Korrektur des noch nicht neurotischen, aber in seiner Entwicklung entgleisten Kindes hat sich eine praktisch wichtige Folge ergeben. Es ist nicht mehr möglich, die Ausübung der Psychoanalyse den Ärzten vorzubehalten und die Laien von ihr auszuschließen. In der Tat ist der Arzt, der nicht eine besondere Ausbildung erfahren hat, trotz seines Diploms ein Laie in der Analyse, und der Nichtarzt kann bei entsprechender Vorbereitung und gelegentlicher Anlehnung an einen Arzt auch die Aufgabe der analytischen Behandlung von Neurosen erfüllen.

Durch eine jener Entwicklungen, gegen deren Erfolg man sich vergebens sträuben würde, ist das Wort Psychoanalyse selbst mehrdeutig geworden. Ursprünglich die Bezeichnung eines bestimmten therapeutischen Verfahrens, ist es jetzt auch der Name einer Wissenschaft geworden, der vom Unbewußt-Seelischen. Diese Wissenschaft kann nur selten für sich allein ein Problem voll erledigen; aber sie scheint berufen, zu den verschiedensten Wissensgebieten wichtige Beiträge zu liefern. Das Anwendungsgebiet der Psychoanalyse reicht ebensoweit wie das der Psychologie, zu der sie eine Ergänzung von mächtiger Tragweite hinzufügt.

So kann ich denn, rückschauend auf das Stückwerk meiner Lebensarbeit, sagen, daß ich vielerlei Anfänge gemacht und manche Anregungen ausgeteilt habe, woraus dann in der Zukunft etwas werden soll. Ich kann selbst nicht wissen, ob es viel sein wird oder wenig. Aber ich darf die Hoffnung aussprechen, daß ich für einen wichtigen Fortschritt in unserer Erkenntnis den Weg eröffnet habe.2


  1. Dies ist eine Konstruktion, die ich ausdrücklich zurücknehmen möchte. Ich glaube nicht mehr, daß der Schauspieler William Shakespeare aus Stratford der Verfasser der Werke ist, die ihm so lange zugeschrieben wurden. Seit der Veröffentlichung des Buches ‚Shakespeare‘ Identified [in Edward de Vere, the 17th Earl of Oxford, 1920] von J. Th. Looney bin ich nahezu überzeugt davon, daß sich hinter diesem Decknamen tatsächlich Edward de Vere, Earl of Oxford, verbirgt.
  2. Seither hat gerade die Kinderanalyse durch die Arbeiten von Frau Melanie Klein und meiner Tochter Anna Freud einen mächtigen Aufschwung genommen.