Zum Hauptinhalt springen

Nachschrift (1935)

Der Herausgeber dieser Sammlung von „Selbstdarstellungen“ hatte es meines Wissens nicht in Aussicht genommen, daß eine derselben nach Ablauf eines gewissen Zeitraums eine Fortsetzung finden sollte. Es ist möglich, daß es hier zum ersten Mal geschieht. Anlaß zu diesem Unternehmen wurde der Wunsch des amerikanischen Verlegers, die kleine Schrift seinem Publikum in einer neuen Ausgabe vorzulegen. Sie war zuerst im Jahre 1927 in Amerika (bei Brentano) erschienen unter dem Titel „An Autobiographical Study“, aber ungeschickterweise mit einem anderen Essay verkoppelt und durch dessen Titel „The Problem of Lay-Analysis“ verdeckt. Zwei Themen ziehen sich durch diese Arbeit, das meiner Lebensschicksale und das der Geschichte der Psychoanalyse. Sie treten in die innigste Verbindung zueinander. Die „Selbstdarstellung“ zeigt, wie die Psychoanalyse mein Lebensinhalt wird, und folgt dann der berechtigten Annahme, daß nichts, was mir persönlich begegnet ist, neben meinen Beziehungen zur Wissenschaft Interesse verdient. Kurz vor der Abfassung der „Selbstdarstellung“ hatte es den Anschein gehabt, als würde mein Leben durch die Rezidive einer bösartigen Erkrankung zu einem baldigen Abschluß kommen; allein die Kunst des Chirurgen hatte mir 1923 Rettung gebracht, und ich blieb lebens- und leistungsfähig, wenn auch nie mehr beschwerdefrei. In den mehr als zehn Jahren seither habe ich nicht aufgehört, analytisch zu arbeiten und zu publizieren, wie meine mit dem XII. Band abgeschlossenen „Gesammelten Schriften“ (beim Internationalen Psychoanalytischen Verlag in Wien) erweisen. Aber ich finde selbst einen bedeutsamen Unterschied gegen früher. Fäden, die sich in meiner Entwicklung miteinander verschlungen hatten, begannen sich voneinander zu lösen, später erworbene Interessen sind zurückgetreten und ältere, ursprünglichere, haben sich wieder durchgesetzt. Zwar habe ich in diesem letzten Dezennium noch manch wichtiges Stück analytischer Arbeit unternommen, wie die Revision des Angstproblems in der Schrift „Hemmung, Symptom und Angst“ 1926, oder es gelang mir 1927 die glatte Aufklärung des sexuellen „Fetischismus“, aber es ist doch richtig zu sagen, daß ich seit der Aufstellung der zwei Triebarten (Eros und Todestrieb) und der Zerlegung der psychischen Persönlichkeit in Ich, Über-Ich und Es (1923) keine entscheidenden Beiträge mehr zur Psychoanalyse geliefert, und was ich später geschrieben habe, hätte schadlos wegbleiben können oder wäre bald von anderer Seite beigebracht worden. Dies hing mit einer Wandlung bei mir zusammen, mit einem Stück regressiver Entwicklung, wenn man es so nennen will. Nach dem lebenslangen Umweg über die Naturwissenschaften, Medizin und Psychotherapie war mein Interesse zu jenen kulturellen Problemen zurückgekehrt, die dereinst den kaum zum Denken erwachten Jüngling gefesselt hatten. Bereits mitten auf der Höhe der psychoanalytischen Arbeit, im Jahre 1912, hatte ich in „Totem und Tabu“ den Versuch gemacht, die neu gewonnenen analytischen Einsichten zur Erforschung der Ursprünge von Religion und Sittlichkeit auszunützen. Zwei spätere Essays „Die Zukunft einer Illusion“ (1927) und Das „Unbehagen in der Kultur“ (1930) setzten dann diese Arbeitsrichtung fort. Immer klarer erkannte ich, daß die Geschehnisse der Menschheitsgeschichte, die Wechselwirkungen zwischen Menschennatur, Kulturentwicklung und jenen Niederschlägen urzeitlicher Erlebnisse, als deren Vertretung sich die Religion vordrängt, nur die Spiegelung der dynamischen Konflikte zwischen Ich, Es und Über-Ich sind, welche die Psychoanalyse beim Einzelmenschen studiert, die gleichen Vorgänge, auf einer weiteren Bühne wiederholt. In der „Zukunft einer Illusion“ hatte ich die Religion hauptsächlich negativ gewürdigt; ich fand später die Formel, die ihr bessere Gerechtigkeit erweist: ihre Macht beruhe allerdings auf ihrem Wahrheitsgehalt, aber diese Wahrheit sei keine materielle, sondern eine historische.

Diese von der Psychoanalyse ausgehenden, aber weit über sie hinausgreifenden Studien haben vielleicht mehr Anklang beim Publikum gefunden als die Psychoanalyse selbst. Sie mögen ihren Anteil an der Entstehung der kurzlebigen Illusion gehabt haben, daß man zu den Autoren gehört, denen eine große Nation wie die deutsche bereit ist, Gehör zu schenken. Es war im Jahre 1929, daß Thomas Mann, einer der berufensten Wortführer des deutschen Volkes, mir eine Stellung in der modernen Geistesgeschichte zuwies in ebenso inhaltsvollen wie wohlwollenden Sätzen. Wenig später wurde meine Tochter Anna auf dem Rathaus von Frankfurt a. M. gefeiert, als sie dort in meiner Vertretung erschienen war, um den mir verliehenen Goethepreis für 1930 zu holen. Es war der Höhepunkt meines bürgerlichen Lebens; kurze Zeit nachher hatte sich unser Vaterland verengt, und die Nation wollte nichts von uns wissen.

Hier darf ich mir gestatten, meine autobiographischen Mitteilungen abzuschließen. Was sonst meine persönlichen Verhältnisse, meine Kämpfe, Enttäuschungen und Erfolge betrifft, so hat die Öffentlichkeit kein Recht, mehr davon zu erfahren. Ich bin ohnedies in einigen meiner Schriften — Traumdeutung, Alltagsleben — offenherziger und aufrichtiger gewesen, als Personen zu sein pflegen, die ihr Leben für die Mit- oder Nachwelt beschreiben. Man hat mir wenig Dank dafür gewußt; ich kann nach meinen Erfahrungen niemand raten, es mir gleichzutun.

Noch einige Worte über die Schicksale der Psychoanalyse in diesem letzten Jahrzehnt! Es ist kein Zweifel mehr, daß sie fortbestehen wird, sie hat ihre Lebens- und Entwicklungsfähigkeit erwiesen als Wissenszweig wie als Therapie. Die Anzahl ihrer Anhänger, die in der „Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung“ organisiert sind, hat sich erheblich vermehrt; zu den älteren Ortsgruppen Wien, Berlin, Budapest, London, Holland, Schweiz sind neue hinzugekommen in Paris, Kalkutta, zwei in Japan, mehrere in den Vereinigten Staaten, zuletzt je eine in Jerusalem, Südafrika und zwei in Skandinavien. Diese Ortsgruppen unterhalten aus ihren eigenen Mitteln Lehrinstitute, in denen die Unterweisung in der Psychoanalyse nach einem einheitlichen Lehrplan geübt wird, und Ambulatorien, in denen erfahrene Analytiker wie Zöglinge den Bedürftigen unentgeltliche Behandlung geben, oder sie sind um die Schöpfung solcher Institute bemüht. Die Mitglieder der I.P.V. treffen jedes zweite Jahr in Kongressen zusammen, in denen wissenschaftliche Vorträge gehalten und Fragen der Organisation entschieden werden. Der XIII. dieser Kongresse, die ich selbst nicht mehr besuchen kann, fand 1934 in Luzern statt. Die Bestrebungen der Mitglieder gehen von dem allen Gemeinsamen aus nach verschiedenen Richtungen auseinander. Die einen legen den Hauptwert in die Klärung und Vertiefung der psychologischen Erkenntnisse, andere bemühen sich um die Pflege der Zusammenhänge mit der internen Medizin und der Psychiatrie. In praktischer Hinsicht hat sich ein Teil der Analytiker zum Ziel gesetzt, die Anerkennung der Psychoanalyse durch die Universitäten und ihre Aufnahme in den medizinischen Lehrplan zu erreichen, andere bescheiden sich damit, außerhalb dieser Institutionen zu bleiben, und wollen die pädagogische Bedeutung der Psychoanalyse nicht gegen ihre ärztliche zurücktreten lassen. Von Zeit zu Zeit ereignet es sich immer wieder, daß ein analytischer Mitarbeiter sich bei der Bemühung isoliert, einen einzigen der psychoanalytischen Funde oder Gesichtspunkte auf Kosten aller anderen zur Geltung zu bringen. Das Ganze macht aber den erfreulichen Eindruck von ernsthafter wissenschaftlicher Arbeit auf hohem Niveau.