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Zweites Kapitel

Wo es sich um Vorliebe und Abneigung handelt, sind wir niemals imstande, aus den einfachsten Tatsachen Schlüsse zu ziehen. Man sollte denken, daß ein Ereignis wie das oben geschilderte meine keimende Leidenschaft für das Meer vollkommen zerstört haben müßte. Ganz im Gegenteil: ich empfand noch nie ein so brennendes Verlangen nach den wilden Abenteuern eines Seemannslebens wie in der Woche, die auf unsere wundersame Errettung folgte. Dieser kurze Zeitraum erwies sich lang genug, um alle Schatten jenes gefährlichen Erlebnisses zu verscheuchen und alle angenehmen, aufregenden, farbenglühenden Momente, all das Malerische ins hellste Licht zu stellen. Meine Gespräche mit Augustus wurden immer häufiger und immer reicher an Interesse. Er hatte eine Art, seine Ozeangeschichten (von denen gewiß mehr als die Hälfte erlogen war) zu erzählen, die wohl dazu angetan schien, auf einen Menschen mit meinem begeisterungsfähigen Gemüt und meiner düsteren und doch dabei feurigen Einbildungskraft Eindruck zu machen. Es ist merkwürdig genug, daß er mich am lebhaftesten für das Leben der Seeleute einzunehmen vermochte, wenn er ihre entsetzlichsten Augenblicke, ihre Leiden, ihre Verzweiflung schilderte. Für die freundliche Seite des Gemäldes hatte ich nicht viel übrig. Ich träumte von Schiffbruch und Hungersnot, von Tod oder Gefangenschaft unter barbarischen Horden, von einem Dasein voll von Trauer und Tränen, verbracht auf grauen und öden Felsen in einem unbekannten, unerreichten Weltmeer. Solche Visionen und Wünsche (denn Wünsche waren es) sind, wie man mir seitdem versichert hat, dem ganzen weitverbreiteten Geschlecht melancholischer junger Leute gemeinsam; zu der Zeit jedoch, von der ich rede, hielt ich sie für prophetische Einblicke in ein Schicksal, das zu erfüllen ich mich gewissermaßen verpflichtet fühlte. Augustus ging vollkommen auf meine Gemütsverfassung ein. In der Tat ist es wahrscheinlich, daß aus unserm engen Verkehr zum Teil eine Vertauschung unserer Charaktere sich ergeben hatte.

Etwa achtzehn Monate nach dem Untergang des »Ariel« war die Firma Lloyd und Vredenburgh (ein Haus, das, wie ich glaube, irgendwie mit den Herren Enderby in Liverpool zusammenhängt) damit beschäftigt, die Brigg »Grampus« für eine Walfängerfahrt auszubessern und herzurichten. Ich weiß kaum, warum sie andern und besseren Schiffen der Firma vorgezogen wurde; war sie doch ein alter Kasten und nach allen Verbesserungen eben zur Not seetüchtig; aber so geschah es. Herr Barnard sollte sie befehligen, Augustus ihn begleiten. Während die Brigg ausgerüstet wurde, legte er mir oft nahe, welche vortreffliche Gelegenheit sich mir jetzt biete, meiner Reisesehnsucht zu frönen. Er fand in mir durchaus keinen unwilligen Zuhörer, aber die Sache ließ sich nicht so glatt erledigen. Mein Vater widerstrebte zwar nicht mit Entschiedenheit, aber meine Mutter bekam bei der bloßen Erwähnung des Planes Krämpfe, und was das Schlimmste war, mein Großvater schwor, mich zu enterben, spräche ich ihm noch ein einziges Mal von dem Gegenstand. Aber diese Schwierigkeiten setzten mein Verlangen nicht matt, vielmehr wurde die Flamme meiner Wünsche noch stärker angefacht. Ich beschloß, auf jede Gefahr hin zu reisen, und nachdem ich Augustus meinen Entschluß mitgeteilt hatte, bedachten wir einen Plan zu seiner Ausführung. Inzwischen sprach ich zu keinem Verwandten ein Wort, das sich auf die Reise bezog, und da ich mich auffällig mit meinen laufenden Studien beschäftigte, wähnten alle, ich hätte meine Absicht aufgegeben. Ich habe seither oft mein damaliges Verhalten mit Mißvergnügen und Erstaunen betrachtet. Die arge Heuchelei, die ich zur Förderung meines Unternehmens übte – eine Heuchelei, die lange Zeit hindurch jedes Wort, jede Handlung meines Lebens beherrschte –, sie kann mir nur erträglich geworden sein durch die wilde, brennende Sehnsucht, mit der ich der Erfüllung meiner lang gehegten Reiseträume entgegensah.

Indem ich meinen betrügerischen Plan verfolgte, mußte ich natürlicherweise das meiste den Händen meines Freundes überlassen, der den größten Teil des Tages an Bord des »Grampus« tätig war, wo er verschiedene Vorkehrungen in der Kajüte an seines Vaters Stelle überwachte. Am Abend jedoch hatten wir regelmäßig eine Besprechung und ergötzten uns an unseren Hoffnungen. Fast ein Monat war auf diese Weise verstrichen, ohne daß wir auf einen Plan gekommen wären, der Erfolg versprochen hätte; da teilte er mir plötzlich mit, alles Nötige sei von ihm vorbereitet. In Neu-Bedford lebte ein Verwandter von mir, ein Herr Roß, in dessen Hause ich zuweilen einige Wochen zu verbringen pflegte. Die Brigg sollte Mitte Juni segeln (es war im Jahre 1827), und wir kamen überein, daß ein oder zwei Tage, bevor sie in See stach, mein Vater einige Zeilen von Herrn Roß erhalten sollte, durch die ich eingeladen würde, wieder ein paar Wochen bei seinen Söhnen Robert und Emmet zuzubringen. Augustus übernahm es, dieses Brieflein zu erdichten und richtig abliefern zu lassen. Nachdem ich dann scheinbar nach Neu-Bedfort abgereist sei, sollte ich mich bei meinem Genossen melden, der mir dann ein Versteck an Bord des »Grampus« besorgen wollte. Dieses Versteck, versicherte er mir, würde für eine Reihe von Tagen, während derer ich mich nicht zeigen dürfte, ein ausreichend bequemer Aufenthalt sein. Sobald das Schiff so weit gelangt wäre, daß man an eine Umkehr um meinetwillen nicht denken könnte, sollte ich an allen Bequemlichkeiten der Kabine teilnehmen dürfen; und was seinen Vater beträfe, so würde der nur herzlich lachen über den gelungenen Spaß. Man würde genug Schiffen begegnen, die einen Brief an meine Eltern mitnehmen könnten, durch den sie die nötige Aufklärung über mein Abenteuer erhalten würden.

Endlich kam die Mitte des Juni heran, und alles war reif zur Ausführung. Der Brief war geschrieben und abgegeben, und am Montag früh verließ ich das Elternhaus, wie man meinte, an Bord des Bedforder Packboots. Statt dessen eilte ich zu Augustus, der mich an einer Straßenecke erwartete. Ursprünglich sollte ich bis zum Anbruch der Nacht aus dem Wege bleiben und dann an Bord schlüpfen; aber ein dichter Nebel begünstigte uns, so daß wir einig wurden, daß ich sogleich versteckt werden sollte. Augustus ging voran zum Kai, ich folgte, in einen dicken Seemannsmantel gehüllt. Als wir um die zweite Ecke bogen, gleich hinter dem Brunnen des Herrn Edmund, wer stand da plötzlich vor mir und sah mir gerade in die Augen? Mein Großvater, der alte Herr Peterson. »Hol' mich der Kuckuck, Gordon«, sagte er nach einer langen Pause, »wie, wie? Wessen schmutzigen Mantel hast du denn an?« – In der Bedrängnis des Augenblickes gab ich mir den Anschein, gekränkt und verwundert zu sein, und entgegnete in den brummigsten Baßtönen: »Mein Herr, Sie scheinen sich zu irren; erstens heiße ich nicht Goddin, und dann, wie kannst du oller Lump meinen Äwerrock schmutzig heiten?« Ich konnte um alles in der Welt kaum eine tolle Lache zurückhalten, als der alte Herr bei dieser strammen Abfertigung ein paar Schritte zurückfuhr, erst bleich, dann puterrot wurde, seine Brille hob und senkte, um zuletzt mit erhobenem Regenschirm Sturm auf mich zu laufen. Doch hielt er mit einem Male an, als ob ihm plötzlich etwas eingefallen sei; dann machte er kehrt und hinkte die Straße hinunter, indem er vor Wut bebte und zwischen den Zähnen murmelte: »Geht nicht – neue Brille – dacht', es wäre Gordon – gottverdammtes unnützes Matrosengesindel!«

Nachdem wir so knapp der Gefahr entronnen waren, rückten wir mit größerer Umsicht vor und erreichten sicher unser Ziel. An Bord befanden sich nur ein oder zwei Leute, und die waren mit irgendeiner Arbeit am Vorderkastell beschäftigt. Kapitän Barnard hatte, wie wir wußten, bei Lloyd und Vredenburgh zu tun und würde bis in den späten Abend hinein dort verweilen, so daß wir in der Beziehung wenig zu fürchten hatten. Augustus erkletterte das Schiff zuerst, ich folgte nach, ohne daß die arbeitenden Matrosen unser ansichtig wurden. Wir begaben uns nach der Kajüte und fanden sie leer. Sie war aufs bequemste ausgestattet, wie man das bei Walfängern selten findet. Es gab vier schöne Staatskabinen, mit breiten und bequemen Kojen. Ferner bemerkte ich einen großen Ofen, und den Boden bedeckte ein kostbarer dicker Teppich. Die Höhe betrug volle sieben Fuß, kurz, alles war viel geräumiger und angenehmer, als ich es mir gedacht hatte. Doch Augustus ließ mir nicht viel Zeit zur Umschau; er bestand darauf, daß ich mich eilends verbergen müsse. Er führte mich in seine eigene Kabine, die auf der Steuerbordseite und nahe an der Schott lag. Sobald wir drinnen waren, schloß er die Tür und schob den Riegel vor. Ich glaubte, noch nie ein so schmuckes Zimmerchen gesehen zu haben. Es war zehn Fuß lang und besaß nur eine Koje, aber diese war, wie gesagt, bequem und geräumig. Dicht an der Scheidewand war ein Raum, vier Fuß im Geviert, mit einem Tisch, einem Stuhl und einem hängenden Büchergestell, das zumeist See- und Reiseliteratur enthielt. Das Zimmer hatte noch andere Annehmlichkeiten aufzuweisen; am wenigsten möchte ich eine Art Eisschrank vergessen, in dem mir Augustus allerhand gute Sachen zum Essen und Trinken zeigte.

Jetzt drückte er auf einen bestimmten Punkt des Teppichs innerhalb des eben geschilderten Raumes, indem er mich wissen ließ, daß ein Teil des Fußbodens, etwa sechzehn Quadratzoll, sauber herausgeschnitten und wieder eingefügt worden war. Auf seinen Druck erhob sich dieser Teil und ließ einen seiner Finger durch die Spalte. So hob er allmählich die Falltür, die am Teppich befestigt war, in die Höhe, und ich sah, daß sie in den achtern Kielraum führte. Nun entzündete er eine kleine Kerze mit einem Phosphorstreichholz, setzte das Licht in eine Blendlaterne und stieg in die Öffnung hinab, wobei er mich aufforderte, ihm zu folgen. Ich tat es; er verschloß die Falltür von unten durch einen Nagel, während der Teppich oben seine gewöhnliche Lage wieder einnahm und die Luke den Blicken entzogen wurde.

Die Kerze leuchtete so schwach, daß ich nur mit der größten Mühe den Weg durch die wirre Masse von Gerümpel, in der ich mich befand, einhalten konnte. Jedoch nach und nach wurden meine Augen mit dem Dunkel vertraut, und ich kam mit geringer Mühe vorwärts, indem ich mich an die Rockschöße meines Freundes klammerte. Er brachte mich endlich, nachdem wir unzähligen engen Durchgängen gefolgt waren, vor einen mit Eisen beschlagenen Koffer von der Art, wie man sie wohl benutzt, um Porzellan zu verwahren. Er war bald vier Fuß hoch und über sechs Fuß lang, jedoch äußerst schmal. Zwei große leere Ölfässer waren auf ihn gerollt, und darüber lagen Strohmatten bis zur Decke emporgetürmt. Ringsherum keilte sich ein Chaos jeder Gattung von Schiffsgerät ineinander, dazu eine bunte Menge von Körben, Fässern, Ballen, so daß es mir wie ein Wunder erschien, daß wir überhaupt zu diesem Koffer durchgedrungen waren. Später entdeckte ich, daß Augustus die Gegenstände absichtlich so verstaut hatte, damit ich vollständig im Verborgenen bleiben könnte; bei seiner Arbeit hatte ihn nur ein einziger Mann unterstützt, und dieser sollte nicht an der Seereise teilnehmen.

Mein Begleiter zeigte mir jetzt, daß eine Querseite des Koffers sich nach Wunsch entfernen lasse. Er schob sie weg und enthüllte das Innere, dessen Anblick mir nicht wenig Spaß machte. Den Boden bedeckte eine Matratze, die aus einer der Kojen in der Kajüte stammte. Was nur irgend an nützlichen Gegenständen in einen so engen Raum zu pferchen ging, war darin enthalten, und zugleich vermochte ich noch darin zu sitzen oder ausgestreckt zu liegen. Unter anderen Dingen fanden sich einige Bücher, drei Bettdecken, ein großer Krug voll Wasser, eine Tonne Schiffszwieback, drei oder vier riesige Bologneser Würste, ein gewaltiger Schinken, eine kalte Hammelkeule und ein halbes Dutzend Flaschen mit stärkenden Getränken. Ich ergriff sofort Besitz von meiner kleinen Wohnung, gewiß mit einem Gefühl tieferer Befriedigung, als ein Monarch beim Einzug in einen neuen Palast empfindet. Augustus erklärte mir nun, wie man das offene Ende des Koffers verschließen könne, und indem er die Kerze bis zum Verdeck emporhob, wies er mir ein Stück dunkelgefärbter Takelleine, das sich, wie er sagte, von meinem Versteck durch alle Windungen im Gerümpel bis zu dem Nagel hinzog, der unterhalb jener Falltür in die Decke des Kielraumes eingeschlagen war. Vermittels dieser Leine könnte ich im Falle eines unerwarteten Ereignisses ohne seine Hilfe den Weg zurückfinden. Dann verabschiedete er sich, nachdem er mir die Laterne sowie einen reichen Vorrat an Kerzen und Streichhölzern zurückgelassen und mir versprochen hatte, mich so häufig zu besuchen, wie es ihm irgend möglich sei. Das war am siebzehnten Juni.

Wenn meine Rechnung zutrifft, blieb ich drei Tage und drei Nächte in diesem Versteck, ohne es überhaupt zu verlassen, außer daß ich ein paarmal die Glieder zu recken versuchte, indem ich mich zwischen zwei Körben, gerade gegenüber der Öffnung, aufrecht hinstellte. Während dieser ganzen Zeit kam mir Augustus nicht zu Gesicht; aber das beunruhigte mich kaum, denn die Brigg mußte jeden Augenblick in See stechen, und in diesem Getriebe fand er nicht so leicht eine Gelegenheit, zu mir herunterzukommen. Endlich hörte ich die Falltür auf- und zugehen und bald darauf die leise Frage, wie ich mich befände und ob ich etwas brauche. »Nichts«, erwiderte ich, »ich befinde mich sehr wohl. Wann segeln wir?«

»Die Brigg wird in weniger als einer halben Stunde die Anker lichten«, gab er mir zur Antwort. »Ich kam, es dir zu sagen, damit du dich nicht über meine Abwesenheit beunruhigst. Ich werde eine Zeitlang, vielleicht drei oder vier Tage, nicht herunterkommen können. Oben geht alles am Schnürchen. Wenn ich die Falltür zugemacht habe, mußt du die Leine entlangkriechen bis zu der Stelle, wo der Nagel eingetrieben ist, ich habe eine Uhr hingehängt, da du ja Tag und Nacht nicht unterscheiden kannst. Wie lange denkst du wohl, daß du begraben bist? Nur drei Tage; heute haben wir den Zwanzigsten. Ich würde dir die Uhr hinbringen, aber ich fürchte vermißt zu werden.« Nach diesen Worten stieg er wieder hinauf. Etwa eine Stunde nach seinem Verschwinden fühlte ich deutlich, wie das Schiff sich bewegte, und ich wünschte mir Glück zum endlichen guten Beginnen der Fahrt. Ich beschloß, mir so wenig Sorgen als möglich zu machen und die Entwicklung der Dinge abzuwarten, bis ich in die Lage käme, meinen Koffer mit einer geräumigen, wenn auch kaum bequemeren Kabine zu vertauschen. Mein erster Gedanke war die Uhr. Ich ließ das Licht brennen und tastete mich durch ungezählte Windungen, von denen einige mich nach langem Fortkriechen wieder in die Nähe meines früheren Standortes brachten. Schließlich erreichte ich den Nagel, bemächtigte mich der Uhr und kehrte wohlbehalten mit ihr zurück. Nun sah ich die Bücher durch, mit denen man mich so vorsorglich versehen hatte, und wählte die Expedition von Lewis und Clarke nach der Mündung des Columbiaflusses. Damit unterhielt ich mich eine Zeitlang, bis ich müde wurde, die Kerze mit großer Sorgfalt auslöschte und bald in einen gesunden Schlaf verfiel.

Als ich erwachte, fühlte ich eine sonderbare Verwirrung in mir, und einige Zeit ging hin, ehe ich alle die verschiedenen Umstände meiner Lage mir ins Gedächtnis zurückrufen konnte. Allmählich jedoch fielen sie mir wieder ein. Ich machte Licht und sah nach der Uhr; doch sie war abgelaufen, und ich konnte daher nicht erfahren, wie lange ich geschlafen hatte. Meine Glieder waren furchtbar steif, und ich mußte mich, um sie zu beleben, abermals zwischen die Körbe stellen. Auf einmal empfand ich einen geradezu rasenden Hunger; ich entsann mich des kalten Hammelfleisches, von dem ich vor dem Schlafengehen mit großem Appetit gegessen hatte. Wie erstaunte ich, als ich entdeckte, daß es in völlige Fäulnis übergegangen war! Diese Tatsache beunruhigte mich entsetzlich; denn ich brachte sie in Zusammenhang mit meinem verworrenen Erwachen und begann zu vermuten, ich müßte unmäßig lange geschlafen haben. Die schlechte Luft im Kielraum mochte etwas damit zu tun haben; sie konnte auf die Dauer Ursache der schlimmsten Wirkungen sein. Mein Kopf schmerzte mich furchtbar; ich meinte nur mit Mühe Atem zu schöpfen; kurz, eine Unmenge düsterer Empfindungen bedrückte mich. Doch durfte ich es nicht wagen, durch Öffnen der Falltür oder sonstwie Aufsehen zu erregen, und nachdem ich die Uhr aufgezogen hatte, suchte ich mich in Geduld zu fassen, so gut es eben ging.

Während der endlosen vierundzwanzig Stunden, die nun folgten, kam niemand mir zu Hilfe, und ich sah mich veranlaßt, Augustus der gröbsten Rücksichtslosigkeit anzuklagen. Besonders erschreckte mich, daß in meinem Krug das Wasser auf etwa eine halbe Pinte zurückgegangen war und daß ich an starkem Durst litt, da ich nach dem Verlust meiner Hammelkeule reichlich viel Bologneser Wurst gegessen hatte. Eine gewaltige Unruhe befiel mich, ich konnte mich nicht länger durch die Lektüre meiner Bücher zerstreuen. Auch überwältigte mich ein Verlangen nach Schlaf aber ich zitterte bei dem Gedanken, ihm nachzugeben, falls ein verderblicher Einfluß, ähnlich dem des Kohlengases, in der stickigen Luft des Kielraums sich bemerkbar machen sollte. Inzwischen belehrte mich das Stampfen der Brigg, daß wir schon weit auf dem Ozean waren, und ein dumpfer, summender Laut, der wie aus ungeheurer Ferne kam, überzeugte mich, daß da draußen eine nicht alltägliche Kühlung wehte. Ich konnte für Augustus' Abwesenheit keinen Grund ausfindig machen. Wir waren gewiß weit genug auf unserer Reise gekommen, um mein Versteck unnötig erscheinen zu lassen. Vielleicht war ihm ein Unfall zugestoßen, aber das schien ja kein Grund, mich so lange eingesperrt zu halten, es sei denn, daß er plötzlich gestorben oder über Bord gestürzt war, und bei dieser Vorstellung konnte ich nicht mit irgendwelcher Geduld verweilen. Es war möglich, daß wir konträren Wind gehabt hatten und uns nahe bei Nantucket befanden. Allein wenn das der Fall gewesen wäre, so hätte die Brigg wiederholt wenden müssen; und da sie beständig nach Backbord neigte, mußte sie die ganze Zeit über vor einer starken Brise von Steuerbord gesegelt sein. Übrigens, falls wir noch in der Nähe der Insel waren, hätte Augustus mich ja besuchen und von diesem Umstand unterrichten können. Indem ich so über die Schwierigkeiten meiner einsamen und freudlosen Lage nachdachte, beschloß ich, noch einmal vierundzwanzig Stunden auszuharren und, wenn dann noch keine Hilfe käme, die Falltür aufzusuchen, um entweder mit meinem Freund zu verhandeln oder wenigstens etwas frische Luft und Wasser aus seiner Kabine zu erhalten. Während ich noch so im Nachdenken war, fiel ich allen meinen Anstrengungen zum Trotz in einen Zustand tiefen Schlafes, der eher einer Betäubung glich. Meine Träume waren von der fürchterlichsten Art. Jeglichem Unheil, jedem Entsetzen wurde ich zur Beute. Neben andern Schrecknissen sah ich mich von Dämonen, deren Aussehen ebenso gespenstisch als blutdürstig war, unter ungeheueren Kissen erstickt. Gigantische Schlangen umwanden mich und sahen mich dabei mit ihren schauerlichen, glühenden Augen an. Dann dehnten sich Wüsten vor mir aus, ohne Grenzen, namenlos öde und voll feierlichen Grausens. Endlos hohe Baumstämme, grau und ohne Laub, erhoben sich in unendlicher Folge, so weit der Blick zu reichen vermochte. Ihre Wurzeln verbargen sich in weiten Morästen, deren trübselige Gewässer in tiefster Schwärze bewegungslos und vollkommen entsetzenerregend vor mir lagen. Und die seltsamen Bäume schienen mit menschlichem Leben begabt, und indem sie ihre dürren Astgerippe wie Arme bewegten, flehten sie im Ton gräßlichster Angst und Verzweiflung die schweigenden Wasser um Erbarmen an. Dann wandelte sich die Szene; ich stand, nackt und allein, inmitten des brennenden Sandmeers der Sahara. Zu meinen Füßen kauerte ein grimmer tropischer Löwe. Auf einmal öffneten sich seine wilden Augen, und sie fielen sogleich auf mich. Mit einem krampfhaften Ruck richtete er sich auf und entblößte seine scheußlichen Zähne. Im nächsten Augenblick barst sein roter Schlund in einem Gebrüll, das dem Donner des Firmaments glich, und ich stürzte mit Ungestüm auf den Boden hin. Ich erstickte einen Krampf des Entsetzens und erkannte endlich, daß ich halb wach war. So schien mein Traum denn mehr als ein Traum zu sein. Jetzt wenigstens war ich wieder Herrscher über meine Sinne. Die Tatzen eines riesenhaften, eines wirklichen Ungeheuers drückten schwer auf meine Brust, sein heißer Atem fauchte in mein Ohr, seine weißen, grauenhaften Reißzähne schimmerten vor meinen Augen in der Finsternis.

Ich konnte mich nicht bewegen, konnte nicht sprechen, hingen auch tausend Leben von der Regung eines Gliedes, vom Aussprechen einer Silbe ab. Das Tier, welcher Art es auch sein mochte, blieb in seiner Stellung, ohne sogleich zur Gewalt überzugehen, während ich vollkommen hilflos und, wie ich glaubte, sterbend unter seinen Pranken lag. Die Kräfte des Leibes und der Seele verließen mich – mit einem Wort, ich war daran, zugrunde zu gehen vor namenlosem Entsetzen. Mein Hirn wirbelte, mir wurde todesübel, meine Sehkraft schwand, selbst die glotzenden Augäpfel über mir begannen zu verblassen. Mit einer letzten heftigen Anstrengung hauchte ich ein kurzes Gebet und machte mich bereit zu sterben. Der Klang meiner Stimme schien all die schlummernde Wut des Geschöpfes wachzurufen. Es stürzte sich der Länge nach über meinen Körper; aber wie erstaunte ich, als es, unter langgedehntem, leisem Winseln, mit dem größten Eifer und allen Zeichen grenzenloser Freude und Zärtlichkeit mir Gesicht und Hände zu lecken sich anschickte! Ich war verwirrt, verloren in Verwunderung; aber ich konnte mich über das eigenartige Winseln meines Neufundländers Tiger, über die wunderliche Manier, in der er mich zu liebkosen pflegte, nicht einen Augenblick täuschen. Er war es. Das Blut raste mir nach den Schläfen. Mit betäubender Gewalt überfiel mich die Empfindung, gerettet, von neuem Leben erfüllt zu sein. Rasch erhob ich mich von der Matratze, warf mich an den Hals meines treuen Gesellen und befreite meine Brust vom langen Druck durch eine Flut der leidenschaftlichsten Tränen.

Wie schon zuvor in einem ähnlichen Fall waren meine Begriffe in einem Zustand größter Unklarheit und Verwirrung. Lange Zeit konnte ich keinen Gedanken mit dem andern verknüpfen; aber nach und nach, obwohl sehr langsam, kehrte mir die Denkkraft wieder, und ich vermochte mancherlei Umstände ins Gedächtnis zurückzurufen. Tigers Anwesenheit konnte ich mir nicht erklären; und nachdem ich mir über die Ursache seines Erscheinens vergeblich den Kopf zerbrochen hatte, mußte ich mich mit der Freude begnügen, daß er hier war, meine traurige Einsamkeit zu teilen, mich durch seine Liebkosungen zu trösten. Die meisten Menschen lieben ihre Hunde; aber meine Zärtlichkeit für Tiger war nichts Alltägliches; und in der Tat erwies sich kein Geschöpf je einer solchen Neigung würdiger. Sieben Jahre lang war er mein unzertrennlicher Gefährte gewesen, und oft schon hatte er die edlen Eigenschaften bewährt, die wir am Hunde schätzen. Als er ganz klein war, hatte ich ihn einem kleinen Nantucketer Bösewicht entrissen, der ihn am Strick ins Wasser schleppen wollte; und drei Jahre später belohnte mich der erwachsene Hund, indem er mich vor dem Knittel eines Straßenräubers bewahrte.

Die Uhr war wiederum abgelaufen; doch das wunderte mich nicht im geringsten, da ich aus dem sonderbaren Zustand meiner leiblichen Empfindungen die Gewißheit schöpfte, daß ich abermals sehr lange geschlafen hatte; wie lange, konnte ich natürlich nicht sagen. Ich brannte im Fieber, der Durst war nahezu unerträglich. Ich durchsuchte den Koffer mit der Hand nach dem geringen Wasservorrat, der mir noch übriggeblieben war, denn ich hatte kein Licht, die Kerze war ausgebrannt, und die Phosphorhölzer konnte ich nicht finden. Leider war der Krug leer, da Tiger ohne Zweifel, der Versuchung nachgebend, ihn ausgetrunken hatte; den Rest des Schöpsenfleisches hatte er ebenfalls gefressen, denn der Knochen lag, sauber abgenagt, nahe der Öffnung des Koffers. Jenes verdorbene Fleisch konnte ich wohl entbehren, aber mein Herz erbebte bei dem Gedanken an das Wasser. Ich war von solcher Schwäche, daß ich wie in einem kalten Fieber bei der kleinsten Bewegung oder Anstrengung von Schauern gerüttelt wurde; dazu kam noch, daß die Brigg heftig stampfte und rollte, so daß die Ölfässer jeden Augenblick von meinem Koffer herunterzufallen und den Aus- oder Eingang zu versperren drohten. Auch litt ich furchtbar an der Seekrankheit. All dies bewog mich, auf jede Gefahr hin die Falltür aufzusuchen und sofortige Hilfe zu erlangen, bevor mir jede Fähigkeit dazu schwinden würde. Nachdem dieser Entschluß gefaßt war, fühlte ich wieder nach der Phosphorschachtel und den Kerzen. Die Schachtel fand ich nach einigem Suchen, die Kerzen aber nicht so bald, wie ich gehofft hatte, denn ich entsann mich nicht genau des Ortes, an den ich sie gelegt, und so gab ich das Suchen vorläufig auf, befahl Tiger Ruhe und begann sogleich meinen Gang nach der Falltür.

Bei diesem Versuch kam meine jammervolle Schwäche mehr denn je an den Tag. Mit der äußersten Mühe nur konnte ich kriechend den Weg zurücklegen, und wiederholt brach ich vollständig zusammen; dann fiel ich aufs Gesicht und verharrte minutenlang in einem Zustand, der an Bewußtlosigkeit grenzte. Doch kämpfte ich mich langsam weiter, in der steten Furcht, ich könnte inmitten dieses Chaos von Gerümpel in Ohnmacht sinken, was unbedingt zu meinem Tode führen mußte. Endlich aber drang ich mit aller Gewalt vorwärts und schlug mit der Stirn heftig gegen die scharfe Ecke eines Eisenkorbes. Nur wenige Augenblicke betäubte mich dieser Zufall; doch zu meiner unaussprechlichen Betrübnis zeigte es sich, daß die schlingernde Bewegung des Schiffes den Korb derart über meinen Weg geworfen hatte, daß der Durchgang vollkommen versperrt war. Mit der furchtbarsten Anstrengung konnte ich ihn keinen Zollbreit fortbewegen, da er zwischen Koffern und Schiffsgerät fest eingekeilt lag. Ich mußte daher, trotz meiner Schwäche, entweder der Führung durch die Leine entraten oder das Hindernis zu übersteigen suchen. Jene erste Möglichkeit bot zuviel Schwierigkeiten und Schrecken, als daß ich ohne Schauder daran hätte denken können. Wagte ich das in meinem gegenwärtigen Zustand, so würde ich unbedingt die Richtung verlieren und auf elende Weise in den trostlosen und ekelhaften Irrgängen des Kielraums zugrunde gehen. Daher nahm ich ohne Zögern alle Kraft, allen Mut, die mir noch geblieben waren, zusammen, um so gut als irgend möglich über den Korb hinwegzuklimmen.

In dieser Absicht richtete ich mich auf und fand das Unternehmen noch schwieriger, als meine Furcht es mir gezeigt hatte. Auf jeder Seite des Engpasses stieg eine wahre Mauer verschiedenartigen schweren Gerümpels in die Höhe, das der kleinste Fehltritt, den ich tat, auf meinen Kopf herabstürzen lassen konnte; oder es würde, geschah dies nicht, der Pfad durch die fallenden Massen so versperrt werden, daß ich nicht wieder zurückzugelangen imstande wäre. Der Korb war länglich und ungeschlacht, ich hätte nicht darauf Fuß fassen können. Umsonst strebte ich, den Deckel zu erreichen, in der Hoffnung, mich hinaufschwingen zu können. Gelang es mir, so hätte meine Kraft gewiß nicht ausgereicht, um mich hinüberzuziehen, und daß es mir mißglückte, war jedenfalls das beste. Endlich, bei einem verzweifelten Versuch, das Ding hochzuheben, fühlte ich ein starkes Beben an der mir zunächstliegenden Seite. Ich steckte die Hand hinein und fand, daß eines der Bretter an der von eisernen Reifen umspannten Kiste sich gelockert hatte. Mit meinem Taschenmesser, das ich zum Glück bei mir trug, gelang es mir nach harter Arbeit, das Brett loszumachen; ich kroch durch die Öffnung und entdeckte zu meiner großen Freude, daß auf der anderen Seite keine Planken seien; mit einem Wort: es fehlte der Deckel, ich hatte mich durch den Boden durchgezwängt. Jetzt blieben keine Schwierigkeiten mehr zu überwinden, bis ich jenen Nagel an der Falltür erreichte. Mit klopfendem Herzen stand ich aufrecht, sacht drückte ich gegen die Tür. Sie hob sich nicht so rasch, wie ich hoffte, und ich drückte etwas entschiedener, noch immer fürchtend, in der Kabine einen andern zu finden als Augustus. Doch zu meiner Verwunderung blieb die Tür unbewegt, und ich fing an besorgt zu werden; denn früher war sie fast von selbst aufgegangen. Ich stieß heftig zu – sie blieb fest; mit aller meiner Kraft – sie gab noch immer nicht nach; wütend, rasend, verzweifelnd – sie trotzte meinen äußersten Anstrengungen, und es schien klar, daß entweder das Loch entdeckt und zugenagelt oder eine ungeheure Last daraufgewälzt worden war, an deren Entfernung man nicht denken konnte.

Ich empfand tiefstes Grauen, tiefste Entmutigung. Umsonst versuchte ich für dieses Begraben meiner Person einen Grund zu ersinnen. Ich war nicht länger imstande, folgerichtig zu denken, warf mich zu Boden, ergab mich widerstandslos düstersten Vorstellungen, in denen entsetzliche Todesarten: Durst, Hunger, Ersticken, vorzeitiges Begräbnis, als die hauptsächlichen Schrecknisse auf mich eindrängten. Zuletzt gewann ich einen Teil meiner Geistesgegenwart zurück. Ich stand auf und griff mit meinen Fingern nach den Fugen der Falltür. Dann untersuchte ich sie genau, ob nicht etwa Licht hindurchschiene, aber es war keines wahrzunehmen. Dann zwängte ich mein Messer hindurch, bis ich auf einen harten Gegenstand stieß. Ich kratzte an dem Hindernis und fand, daß es eine feste, eiserne Masse war; sie fühlte sich durch die Schneide wellig an, ich schloß daher auf ein Kettenkabel. Die einzige Möglichkeit blieb jetzt, nach meinem Koffer zurückzutappen und dort entweder meinem traurigen Geschick zu unterliegen oder mich so weit zu beruhigen, daß ich einen Rettungsversuch bedenken konnte. Nach unsäglichen Schwierigkeiten gelang es mir, den Weg zurückzumachen. Völlig erschöpft sank ich auf die Matratze, und Tiger streckte sich in ganzer Länge neben mir aus, als wollte er durch seine Liebkosungen mich trösten und zu tapferem Ertragen meines Unglücks ermutigen.

Die Seltsamkeit seines Verhaltens erregte schließlich meine Aufmerksamkeit. Nachdem er eine Weile mir Gesicht und Hände beleckt hatte, hörte er plötzlich auf und ließ ein leises Winseln vernehmen. Dann streckte ich meine Hand nach ihm aus, und stets fand ich ihn mit aufgehobenen Pfoten auf dem Rücken liegen. Die häufige Wiederholung dieses Benehmens erschien sonderbar, und ich konnte keine Ursache dafür finden. Da der Hund sehr betrübt schien, schloß ich daraus, er habe eine Verletzung erlitten; ich untersuchte seine Pfoten, fand aber keine Spur einer Wunde. Dann hielt ich ihn für hungrig und reichte ihm ein großes Stück Schinken; er fraß es gierig, begann aber sogleich wieder sein wunderliches Tun. Nun meinte ich, er leide gleich mir unter den Qualen des Durstes, und wollte diese Vermutung als richtig annehmen, als mir beifiel, daß ich ja bis jetzt nur seine Pfoten untersucht hatte, daß er möglicherweise am Körper oder am Kopf verwundet sein könnte. Ich befühlte sorgsam den Kopf, fand aber nichts. Doch als ich ihm mit der Hand über den Rücken strich, bemerkte ich eine leichte Erhebung der Haare, die sich quer darüber hinzog. Mit dem Finger nachtastend, entdeckte ich eine Schnur, die sich um den Leib des Hundes wickelte. Bei näherer Untersuchung kam ich auf einen Streifen, der nach meinem Gefühl ein Stück Briefpapier schien, das mit der Schnur unmittelbar unter der linken Schulter des Tieres befestigt war.