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Die politische Gruppierung der russischen Schriftsteller

Was am schlagendsten die Stellung des sowjetrussischen Schriftstellers von der seiner sämtlichen europäischen Kollegen unterscheidet, ist die absolute Öffentlichkeit seines Wirkens. Seine Chancen sind daher ungleich größer, seine Kontrolle ist ungleich strenger als die der westlichen Literaten. Diese seine öffentliche Kontrolle durch Presse, Publikum und Partei ist politisch. Die eigentliche offizielle Zensur – bekanntlich eine Präventiv zensur – ist also für die Bücher, die erscheinen, nur ein Vorspiel jener politischen Debatte, als welche ihre Rezensionen zum größten Teil sich darstellen. Farbe zu bekennen ist für den russischen Schriftsteller unter diesen Umständen eine Lebensfrage.

Die Auseinandersetzung mit den jeweils aktuellen politischen Parolen und Problemen kann niemals intensiv genug sein, dergestalt, daß jede wichtige Entschließung der Partei den Schriftstellern die unmittelbarste Aufgabe stellt, und Romane und Novellen in vielen Fällen zum Staat in einem ähnlichen Verhältnis stehen, wie vor Jahrhunderten die Produktion eines Autors zu der Gesinnung seines fürstlichen Mäzens. Diese Verhältnisse haben in wenigen Jahren eindeutige und weithin sichtbare politische Gruppierungen unter den Schriftstellern notwendig gemacht. Diese Gruppenbildungen haben Autorität, sind ausschließend und einzig. Nichts kann dem Literaten in Europa ihren Charakter heller ins Licht setzen als der Umstand, daß künstlerische Schulen und artistische cenacles in Rußland augenblicklich fast vom Erdboden verschwunden sind.

WAPP, der allrussische Verband proletarischer Schriftsteller, ist die führende Organisation. Sie umfaßt 7000 Mitglieder. Ihr Standpunkt: Mit Eroberung der politischen Macht hat das russische Proletariat zugleich den Anspruch auf die intellektuelle und die künstlerische Vorherrschaft gewonnen. Da andererseits dank einer jahrhundertelangen Entwicklung die organisatorischen und produktiven Mittel des Kunstschaffens noch durchaus im Besitze der Bourgeoisie sind, so lassen vorderhand die Rechte des Proletariats auch auf dem Gebiet der Kunst und Literatur nur in der Form der Diktatur sich vertreten. Daß dies Programm sich, wenn auch nur sehr eingeschränkt, in der Öffentlichkeit hat durchsetzen können, ist noch durchaus nicht lange her. Der intensive Rückschlag in der Kulturpolitik, der mit der Liquidierung des Kriegskommunismus auch die »linke Kulturfront« ins Wanken brachte, vereitelte zunächst die offizielle Anerkennung eines »proletarischen Schrifttums« durch die Partei. Vor einem Jahre hat dann WAPP die ersten öffentlichen Erfolge errungen. Innerhalb dieser Gruppe ist die extreme doch zugleich die führende Partei, die »Napostowzen« – genannt nach ihrer Zeitschrift »Na postu« (»Auf dem Posten«). Sie stellten unter Führung Awerbachs die eigentliche Parteiorthodoxie dar. Theoretisch wird diese Gruppe von Lelewitsch und Besymenski vertreten. Oder genauer gesagt: sie wurde es. Vor kurzem nämlich wurde Lelewitsch, der offen seine Sympathie zur Opposition (Sinowjew, Kamenew) bekannt und einer »linken Abweichung« sich schuldig gemacht hatte, seines Einflusses beraubt und aus Moskau entfernt. Demungeachtet bleibt dieser ehemalige Schlosser der erste Kunsttheoretiker des neuen Rußland. Seine Arbeiten bemühen sich um die Ausgestaltung der von Plechanow stammenden Grundlagen der materialistischen Ästhetik. Unter den führenden Dichtern der Gruppe sind Demjan Bedny, der erste volkstümliche große revolutionäre Lyriker, sowie die Erzähler Libedinski und Serafimowitsch die bekanntesten. »Chronisten« müßte man vielleicht die beiden letzten nennen. Ihre auch in Deutschland bekannten Hauptwerke »Die Woche« und »Der eiserne Strom« sind Referate aus den Tagen des Bürgerkrieges. Die Darstellung ist durchaus naturalistisch.

Dieser neue russische Naturalismus ist interessant in mehr als einer Hinsicht. Vorläufer hat er nicht nur im sozialen Naturalismus der neunziger Jahre, sondern seltsamere und bemerkenswertere in dem pathetischen Naturalismus des Barock. Nicht anders denn als barock ist die gehäufte Kraßheit seiner Stoffe, die unbedingte Präsenz des politischen Details, die Vorherrschaft des Stofflichen zu bezeichnen. Sowenig wie es für die Dichtung des deutschen Barock Formprobleme gegeben hat, sowenig existieren sie im heutigen Rußland. Zwei Jahre lang hat der Streit darüber gewährt, ob revolutionäre Form oder ein revolutionärer Inhalt das eigentliche Verdienst einer neuen Dichtung bestimmt. Mangels eigentümlicher revolutionärer Formgestaltung ist dieser Streit dann vor kurzem zugunsten einzig und allein des revolutionären Inhalts entschieden worden.

Bemerkenswert ist in der Tat, daß all die radikalen »linken« Formtendenzen, die in Plakaten, Dichtungen und Prozessionen während des »heroischen Kommunismus« sich kundgaben, geradlinig von den letzten westlichen, bürgerlichen Parolen der Vorkriegszeit abstammen: vom Futurismus, Konstruktivismus, Unanimismus usw. Heute noch haben diese Bewegungen. ein gewisses Wirkungsbereich in der zweiten unter den drei großen Gruppen: den Linken Poputschiki. Diese Gruppe – wörtlich: »Linke Mitläufer« – bildet nicht einen organisierten Verband wie WAPP. Ursprünglich allerdings ging sie aus solchem hervor. »Lef« – »Linke Front« – war eine Vereinigung von Künstlern, die die Entwicklung revolutionärer Formen sich zur Aufgabe gestellt hatten. Ihr Mittelpunkt: Wladimir Majakowski. Auch in den ersten »Proletkult«-Gruppen hatte Majakowski die Führung. Im übrigen sind es gerade die Mitglieder dieser Schule, deren Werk und Person in Deutschland am bekanntesten sind: Babel, Sejfullina, der Theaterdirektor Meyerhold. Einen seiner größten Erfolge hat Meyerhold vor mehr als einem Jahr mit einem Stück »Ritschi Kitai« (»Brülle, China!«) davongetragen. Der Autor Tretjakow ist ebenfalls in diese Gruppe einzustellen, die zwar durchaus uneingeschränkt den Sowjetstaat bejaht, die literarische Hegemonie des Proletariats aber nicht anerkennt.

Als verklausulierte Bejahung des neuen Regimes: de facto, nicht de jure –, so ließe sich der Standpunkt in der dritten Gruppe formulieren. Es ist der im engeren Sinne nationalistische, ja »vaterländische« der Rechten Poputschiki. Unter seinen Vertretern sind so unähnliche wie Jessenin und Ehrenburg. Man kann sagen, daß Jessenin, seit er sich das Leben nahm, die literarische Öffentlichkeit in Rußland ununterbrochen in Atem hält. Es ist noch nicht vier Wochen her, daß in der »Prawda« Bucharin, der nur selten in literarischen Dingen das Wort nimmt, einen langen Aufsatz über den Dichter erscheinen ließ. Das erklärt sich. Jessenin stellt die glänzende und wirkungsreiche Verkörperung eines »alten« russischen Typus dar, des schmerzlich aufgewühlten, tief und chaotisch der russischen Erde verfallenen Träumers, der unvereinbar mit dem neuen Menschen ist, welchen die Revolution in Rußland erschuf. Der Kampf gegen Jessenins Schatten und seinen ungeheuren Einfluß könnte ganz von fern an die neuerlich sehr aktuell gewordene Abwehr des Hooligantums erinnern. Jedenfalls geht es in beiden Fällen um die Vernichtung eines asozialen Typus, in welchem Rußland das Gespenst seiner Vergangenheit erblickt, welches den Weg ins neue Eden der Maschinen ihm vertritt. Im übrigen zählt man die große Mehrzahl der 6 000 russischen. Bauernschriftsteller zu dieser rechten Richtung. Ihre Theoretiker sind Woronski und Efros. Woronski hat die Trotzkische Theorie sich zu eigen gemacht, die lange parteioffiziell war: Das Proletariat hat noch längst nicht die Umwelt so gestaltet, daß im Ernste von proletarischer Dichtung die Rede sein kann. Ihr Anspruch auf Hegemonie fällt damit zusammen. Heute ist, wie gesagt, dieser Standpunkt nicht der der Partei. Endlich wären hierher die sogenannten Schriftsteller der »Neuen Bourgeoisie« zu zählen, die aus der NEP hervorgeht. Um Namen zu nennen: Pilnjak, der Novellist, und die bekannten Dramatiker A. Tolstoi und Bulgakow. Der letztere erscheint augenblicklich mit zwei Dramen auf den Moskauer Bühnen: »Soykina Quartira«, einem Bordellstück, und »Dni Turbini« (»Die Tage der Turbins«), einem Stück aus dem Bürgerkrieg. Seit Monaten behauptet sich dies Drama auf dem Programm von Stanislawski und hat die Publizität, welche nur ein Skandal verleihen kann. Die Tendenz ist rein konterrevolutionär. Das Publikum, die alte Bourgeoisie – »gewesene Leute«, wie man in Rußland so schön sagt – quittiert dafür dankend, indem es Abend für Abend das Theater füllt. Die erste Aufführung des mehrfach von der Zensur verbotenen, mehrfach abgeänderten Dramas brachte einen großen Theaterskandal. Jedoch die radikalen Elemente vermochten ihren Willen nicht durchzusetzen und so hat nun Moskau ein reaktionäres Geschichtsdrama, das in der Minderwertigkeit von Mache und Gesinnung sogar sich auf Berliner Bühnen schwerlich halten würde.

Aber das besagt nichts. Weniger als in irgendeiner anderen kommt es in der heutigen Literatur Sowjetrußlands auf Einzelfälle an. Es gibt Augenblicke, in denen die Dinge und Gedanken gewogen werden und nicht gezählt. Aber nicht weniger – wenn auch weniger beachtet – gibt es solche, in denen gezählt wird und nicht gewogen. Rußlands Literatur ist zur Zeit – und das von Rechts wegen – ein größerer Gegenstand für Statistiker als für Ästhetiker. Tausende von neuen Autoren und Hunderttausende von neuen Lesern wollen vor allem einmal gezählt und dann in Kadres neuer ABC-Schützen eingeteilt sein, die nach politischem Kommando exerzieren und deren Munition das Alphabet ist. Lesen ist heut in Rußland wichtiger als schreiben, Zeitungslektüre wichtiger als Bücherlesen und buchstabieren wichtiger als Zeitungslektüre. Die beste russische Literatur kann darum, wenn sie ist, was sie sein soll, nur das farbige Bild in der Fibel sein, aus der die Bauern in dem Schatten Lenins lesen lernen.