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Zur Lage der russischen Filmkunst

Die Spitzenleistungen der russischen Filmindustrie bekommt man in Berlin bequemer zu sehen als in Moskau. Nach Berlin kommt bereits eine Auslese, die man in Moskau selber zu treffen hat. Man kann sich auch dabei nicht leicht beraten lassen: die Russen stehen ihrem eigenen Film ziemlich unkritisch gegenüber. (Daß zum Beispiel der große Erfolg des »Potemkin« in Deutschland entschieden wurde, ist ja bekannt.) Grund dieser Unsicherheit im Urteil: es fehlt der europäische Vergleichsmaßstab. Gute Filme des Auslands sieht man in Rußland selten. Bei ihren Einkäufen steht die Regierung auf dem Standpunkt, für die konkurrierenden Weltfirmen sei der russische Markt so wichtig, daß sie gewissermaßen mit Reklamemustern zu reduzierten Preisen. ihn beschicken müßten. Auf diese Weise bleiben selbstverständlich die guten, hochbezahlten Filme draußen. Für den einzelnen russischen Künstler hat die daraus folgende Uninformiertheit des Publikums ihre Annehmlichkeiten. Iljinsky arbeitet mit einer sehr unexakten Chaplin-Kopie und gilt als Komiker, nur weil Chaplin hier unbekannt ist.

Ernsthafter, allgemeiner, drücken interne russische Verhältnisse den Durchschnittsfilm. Geeignete Szenarien zu beschaffen ist nicht leicht, weil die Stoffwahl strenger Kontrolle unterliegt. Die größte Zensurfreiheit genießt in Rußland die Literatur. Weit genauer beaufsichtigt man das Theater und am schärfsten den Film. Diese Skala ist proportional der Größe der jeweiligen Zuschauermasse. Unter diesem Regime liegt zur Zeit das Leistungsmaximum in Episoden aus der russischen Revolution, Filme, die weiter ins Vergangene zurückgreifen, bilden den belanglosen Durchschnitt und die Lustspiele kommen für europäischen Maßstab überhaupt nicht in Frage; Der Kern aller gegenwärtigen Schwierigkeiten der russischen Filmproduzenten liegt nun darin, daß die Öffentlichkeit in deren eigentliche Domäne, das politische Stück aus dem Bürgerkrieg, ihnen weniger und weniger folgt. Mit einer Hochflut von Todes- und Schreckensdramen erreichte vor etwa anderthalb Jahren die politischnaturalistische Periode des russischen Films ihren Höhepunkt. Solche Themen haben inzwischen den Reiz verloren. überall gilt die Parole der inneren Befriedung. Film, Rundfunk, Theater rücken von jeder Propaganda ab.

Der Versuch, an friedlich gestimmte Stoffe heranzukommen, hat zu einem merkwürdigen technischen Kunstgriff geführt. Da aus politischen und artistischen Gründen die Verfilmung der großen russischen Romane sich meist verbietet, so hat man ihnen einzelne bekannte Typen entnommen, und sie in eine aktuelle, frei erfundene Handlung »montiert«. Aus Puschkin, Gogol, Gontscharow, Tolstoi entlehnt man Figuren oft unter Beibehaltung des Namens. Mit Vorliebe sucht dieser neue russische Film das ferne östliche Rußland auf. »Für uns« – will man damit sagen – »gibt es keine ›Exotik‹«. Dieser Begriff gilt nämlich als Bestandteil der konterrevolutionären Ideologie eines kolonisierenden Volkes. Rußland kann den romantischen Begriff von einem »fernen Orient« nicht gebrauchen. Ihm ist er nah und ökonomisch verbunden. Zugleich besagt das: wir sind auf fremde Länder und Naturen nicht angewiesen – ist Rußland doch der sechste Teil der Erde! Wir haben alles Irdische auf eigenem Grund und Boden.

So hat man denn jetzt eben den »Sechsten Teil der Erde«, ein Filmepos vom neuen Rußland, herausgebracht. Die Hauptaufgabe, in charakteristischen Bildern das ganze ungeheure Rußland in seiner Umprägung durch die neue Gesellschaftsordnung zu zeigen, hat der Regisseur Wertoff allerdings nicht gelöst. Die filmische Kolonisierung Rußlands ist fehlgeschlagen, hervorragend gelungen aber die Grenzmarkierung gegen Europa. Mit ihr setzt dieser Film ein. In Bruchteilen von Sekunden folgen einander Bilder aus Arbeitsstätten (kreisende Kolben, Kulis bei der Ernte, Transportarbeiten) und aus Genußstätten des Kapitals (Bars, Dielen, Klubs). Gesellschaftsfilmen der letzten Jahre hat man einzelne, winzige Ausschnitte (oft nur Details einer kosenden Hand oder tanzende Füße, ein Stück Frisur oder einen Streifen Hals mit Kollier) entnommen und so montiert, daß ununterbrochen sie zwischen Bilder fronender Proletarier sich schieben. Leider läßt der Film dieses Schema schnell fallen, um einer Beschreibung der russischen Völker und Landschaften sich zu widmen, deren Zusammenhang mit ihrer wirtschaftlichen Produktionsbasis viel zu schattenhaft angedeutet ist. Wie unsicher man noch tastet, beweist der einzige Umstand, daß zu dem Bild der Krane, Hebel und Transmissionen eine Kapelle Tannhäuser- und Lohengrinmotive spielt. Immerhin sind die Aufnahmen charakteristisch für das Bestreben, Filme ohne dekorativen und schauspielerischen Apparat schlechtweg dem Leben selber abzugewinnen. Man arbeitet mit dem maskierten Apparat. Während vor einer Attrappe die Primitiven irgendwelche Posen annehmen, werden sie kurze Zeit nachher, wenn sie alles beendet glauben, wirklich gefilmt. Die gute neue Parole »Los von der Maske!« hat nirgends mehr Geltung als im russischen Film. Nirgends ist daher die Bedeutung des Filmstars geringer. Man sucht nicht ein für allemal einen Akteur, sondern von Fall zu Fall die erforderten Typen. Ja, man geht weiter. Eisenstein, der Regisseur des »Potemkin«, bereitet einen Film aus dem Leben der Bauern vor, in dem es überhaupt keine Schauspieler geben soll.

Nicht nur eines der interessantesten Objekte, sondern das wichtigste Publikum des russischen Kulturfilms sind die Bauern. Ihnen sucht man historische, politische, technische und hygienische Kenntnisse durch den Film näherzubringen. Aber noch steht man ziemlich ratlos vor den Schwierigkeiten, auf die das stößt. Die Auffassungsart der Bauern ist grundverschieden von der der städtischen Massen. Es hat sich beispielsweise gezeigt, daß ländliches Publikum nicht imstande ist, zwei simultane Handlungsreihen aufzufassen, wie jeder Film sie hundertfach enthält. Es folgt nur einer einzigen Bilderreihe, die chronologisch ganz wie Moritaten-Bilder sich vor ihm abrollen muß. Nachdem man weiter wiederholt erfahren hatte, daß ernstgemeinte Stellen unwiderstehlich komisch, und umgekehrt komische ernst bis zur Rührung auf sie wirken, hat man begonnen, Produktionen eigens für jene Wanderkinos herzustellen, die gelegentlich bis an die äußersten Grenzen Rußlands zu Völkern vordringen, die weder Städte noch moderne Verkehrsmittel je erblickt haben. Auf solche Kollektiva Film und Radio einwirken zu lassen, ist eines der großartigsten völkerpsychologischen Experimente, die in dem Riesenlaboratorium Rußland jetzt angestellt werden. Natürlich spielen in ländlichen Kinos Aufklärungsfilme aller Art die Hauptrolle. Praktiken, wie die Abwehr der Heuschreckenplage, Traktorenbedienung, Heilung der Trunksucht stehen im Vordergrund. Vieles aus. dem Programm solcher Wanderkinos bleibt dennoch für die große Masse unverständlich und dient als Ausbildungsmaterial für die Fortgeschrittenen: Mitglieder der dörflichen Sowjets, Bauernkorrespondenten usw. Zur Zeit denkt man in diesem Zusammenhang an die Gründung eines »Instituts zum Studium des Zuschauers«, in dem man experimentell und theoretisch Reaktionen des Publikums zu erforschen sucht.

So also hat sich eine der letzten großen Losungen »Mit dem Gesicht zum Dorfe!« im Film ausgewirkt. Politik gibt hier wie im Schrifttum die kräftigsten Impulse mit den Direktiven, welche das ZK der Partei der Presse, die Presse den Klubs, die Klubs den Theatern und Filmen wie Stafetten allmonatlich weitergeben. Es kann aber auch geschehen, daß von dergleichen Devisen ernstliche Hemmnisse ausgehen. Ein paradoxes Beispiel bietet das Schlagwort »Industrialisierung«. Bei dem leidenschaftlichen Interesse, das man für alles Technische hat, müßte, so sollte man meinen, der Groteskfilm beliebt sein. In Wirklichkeit schließt aber eben diese Leidenschaft vorläufig alles Technische gegen die Komik ab und die exzentrischen Komödien, die man aus Amerika einführte, sind ein ganz offenbarer Mißerfolg gewesen. Ironische und skeptische Gesinnung in technischen Dingen kann der neue Russe nicht fassen. Verloren gehen ferner dem russischen Film sämtliche Stoffe und Probleme aus dem bourgeoisen Leben, das heißt vor allem: man duldet keine Liebesdramen im Film. Dramatische oder gar tragische Akzentuierung von Liebesangelegenheiten ist im ganzen russischen Leben verpönt. Selbstmorde aus getäuschter oder unglücklicher Liebe, wie sie auch jetzt noch hie und da vorkommen, werden von der öffentlichen Meinung des Kommunismus nicht anders beurteilt als die gröbsten Exzesse.

Alle Probleme, die im Mittelpunkt der Diskussion stehen, sind für den Film – genau wie für die Literatur – Probleme des Stoffkreises. Durch die neue Ära des Burgfriedens sind sie in ein schwieriges Stadium getreten. Auf einer sicheren Basis kann der russische Film erst stehen, wenn die Verhältnisse der bolschewistischen Gesellschaft (nicht nur des Staatslebens!) stabil genug sind, eine neue »Gesellschaftskomödie«, neue Chargen und typische Situationen zu tragen.