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Neoklassizismus in Frankreich

Zur Berliner Uraufführung von Cocteaus »Orpheus«

Das achtzehnte Jahrhundert kannte eine sonderbare Art theologischer Werke, von denen wir heute selbst den Namen nicht mehr verstehen. Da gab es aufgeklärte Köpfe, die bewiesen das Dasein und die Herrlichkeit Gottes aus der Vollkommenheit des Firmaments, des Wassers, der Baumwelt, und dann überschrieben sie solche Werke Astero-, Hydro- oder Dendrotheologie. Auch Cocteau hat etwas von dieser naseweisen Gottesgelahrtheit, setzt sich eine große Brille aus Fensterglas vor die scharfen Augen und verfaßt »Orphee« – eine »Mythotheologie«, wie wir uns ihn zu taufen erlauben. Ein Beweis, wie schon die Mythen der alten Heiden es mit christlichem Himmel hatten und nur nicht wußten. »Neu« ist das nun nicht. Nein, aber so alt, daß es schon mit Anstand hervorgeholt werden durfte. Es ist nämlich der erstaunliche Blick auf das Griechentum, den manche Kirchenväter besaßen, wenn sie im Tode des Sokrates ein Vorspiel zum Tode Christi sahen, der Blick, der vorbei an der »edlen Einfalt und stillen Größe« so gut wie an aller »Gräbersymbolik der Alten« auf jenes hermetische, rationale, schattenschnelle Auftauchen griechischer Figurinen an den carrefours der Heilsgeschichte sich richtet. Es sind wechselnde Linsen, durch die das lumen supranaturale hindurchtritt, um dies geheimnisvollste Antlitz der Antike, das nie das ihres Lebens, nur das ihres magischen Nachwirkens war, an den Tag zu bringen. Das Mittelalter hatte seine unvergleichliche Linse in der Allegorie. Bei Jean Cocteau muß die Christlichkeit sich durch viel unbequemere Gläser quälen. Auch brennt ihr Licht weiß Gott erheblich schwächer. Es ist die trübe Funzel, die Jacques Maritain an diesem Docht, dem Dichter, sich für seinen Lebensabend entzündet hat. Und alles, was man über diesen komischen Vorgang und seine Exhibition in den berühmten beiden Briefen bemerkt hat, sei unterstrichen und unterschrieben. Mit alledem aber ist doch über, geschweige gegen, Cocteaus bedeutendstes Werk – das ist der »Orpheus« – viel weniger gesagt, als man in Berlin zu glauben scheint.

An der Aufführung lagen die Mißverständnisse kaum. Wenn Müthel auch ganz übersah, daß die Eitelkeit, der Starrsinn, die Narrheit nur Kleider sind, die auf dem Läuterungswege von Orpheus fallen, und durch die hindurch immer eine vollendet schöne, vor allem eine träumende Körperseele zu schimmern hat, Roma Bahn ließ die Eurydike der Mme Pitoëff gewiß nicht vergessen. Aber sie war doch muster- und geisterhaft und hatte jederzeit so viel niaiserie wie Orpheus an Gewicht hätte haben müssen, um die Aufführung vollkommen zu machen. In Paris hatte Heurtebise weißes Glas in seinem Schragen, und es überragte sein Haupt. Beides schien angebracht.

Und nun, unter dem oft genug und zumal im ganzen ergreifenden Eindruck der Tragödie, sollte man nicht über die ärmlichen neukatholischen Posamenten hinwegkommen, mit denen der Dichter seinen Pyjama bestickt hat? Angesichts des vollendet erdachten und verwirklichten Bühnenbildes, des Balkons, der hohen Fenster, des Orpheushaupts auf seinem Postament, nicht an andere Fenster, die sich auf Thrazien öffnen, andere Balkons, vor deren Gitterwerk parisische Athenerinnen sich profilieren, andere Marmorköpfe in solchen vom Licht regierten Räumen sich erinnert fühlen? Jedes fast unter den späten, dem »Orphée« gleichzeitigen Gemälden Picassos zeigt sie. Müßte man nicht froh sein, zwei schöne Werke sich so freigebig bekräftigen zu sehen wie die »Fenêtre Ouverte« und »Orphée«? Natürlich heißt solche Zeugenschaft aufweisen – denn was Cocteau, Picasso und Strawinsky in einigen ihrer besten Stücke verbindet, ist nicht Verwandtschaft, sondern Zeugenschaft – solche Zeugenschaft aufweisen heißt die ratio, die in diesem neuen Klassizismus waltet, in ihrer ganzen rätselhaften Bestimmtheit beschwören. »Er produziert – hat soeben Ernst Bloch von Strawinsky geschrieben – was russisches Volkslied, griechische Götter, Louis Quatorze im Maschinenzeitalter sind, was sie diesem zu sagen haben.« Das gilt, soweit die Götter in Frage kommen, auch vom »Orphée«. Heurtebise und Hermes haben einerlei Gestalt, und warum sollte nicht ein Glasergeselle der Stadt, von der schon Apollinaire gesagt hat: »Ici même les automobiles ont l'air d'être anciennes« – warum sollte der nicht die Gaben des Hermes haben? Vielleicht sind aber manche dieser Griechengötter Schwellenkundige wie Hermes noch in anderem Sinne als dem sakraler und profaner Binnenräume. Vielleicht verstehen sich diese Götter auf die Schwellen zwischen den Zeiten. So trüben sie, bei Proust, bisweilen mit einem Hauche ihres Daseins einen Duft oder brechen aus einer Falte (und immer ist es der neueste Flakon, der allerletzte modische Schnitt; immer ist das Eleganteste, Ephemerste Medium dieses archaischen Waltens). Und wir zumindest glauben noch nie so wie in diesen wenigen Stunden gefühlt zu haben, daß vielleicht eine heimliche Tür aus der cella des Apollontempels zu Chalkis in die Zeichenklasse des Bauhauses führt. Wenn. zum Schluß die zweifelhaft Vereinten mit dem Engel Heurtebise ihr Mahl teilen, dann wissen wir, die Äpfel am Tisch, um den sie vereint sind, sind weder vom paradiesischen noch von dem hesperischen Baume. Es sind Kpfel aus der Treibzucht Cézannes. Aber sie schmecken nach beiden. Darum fallen auch alle Worte, die hier ertönen, mit so tiefen, selbständigen, bedeutenden Schatten ins Ohr, wie die Möbel und Menschen Picassos sie werfen, hinter denen, strenger sie profilierend, flachschwarze Leiber sich überschneiden.