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I. Fourier oder die Passagen

»De ces palais les colonnes magiques
A l’amateur montrent de toutes parts,
Dans les objets qu’étaient leurs portiques,
Que l’industrie est rivale des arts.«

Nouveaux tableaux de Paris, Paris 1828. I, p. 27.

Die Mehrzahl der pariser Passagen entsteht in den anderthalb Jahrzehnten nach 1822. Die erste Bedingung ihres Aufkommens ist die Hochkonjunktur des Textilhandels. Die magasins de nouveautés, die ersten Etablissements, die größere Warenlager im Hause unterhalten, beginnen sich zu zeigen. Sie sind die Vorläufer der Warenhäuser. Es war die Zeit, von der Balzac schrieb: »Le grand poème de l’étalage chante ses strophes de couleurs depuis la Madeleine jusqu’à la porte Saint-Denis.« Die Passagen sind ein Zentrum des Handels in Luxuswaren. In ihrer Ausstattung tritt die Kunst in den Dienst des Kaufmanns. Die Zeitgenossen werden nicht müde, sie zu bewundern. Noch lange bleiben sie ein Anziehungspunkt für die Fremden. Ein »Illustrierter Pariser Führer« sagt: »Diese Passagen, eine neuere Erfindung des industriellen Luxus, sind glasgedeckte, marmorgetäfelte Gänge durch ganze Häusermassen, deren Besitzer sich zu solchen Spekulationen vereinigt haben. Zu beiden Seiten dieser Gänge, die ihr Licht von oben erhalten, laufen die elegantesten Warenläden hin, so daß eine solche Passage eine Stadt, ja eine Welt im kleinen ist.« Die Passagen sind der Schauplatz der ersten Gasbeleuchtung.

Die zweite Bedingung des Entstehens der Passagen bilden die Anfänge des Eisenbaus. Das Empire sah in dieser Technik einen Beitrag zur Erneuerung der Baukunst im altgriechischen Sinne. Der Architekturtheoretiker Boetticher spricht die allgemeine Überzeugung aus, wenn er sagt, daß »hinsichtlich der Kunstformen des neuen Systemes das Formenprinzip der hellenischen Weise« in kraft treten müsse. Das Empire ist der Stil des revolutionären Terrorismus, dem der Staat Selbstzweck ist. So wenig Napoleon die funktionelle Natur des Staates als Herrschaftsinstrument der Bürgerklasse erkannte, so wenig erkannten die Baumeister seiner Zeit die funktionelle Natur des Eisens, mit dem das konstruktive Prinzip seine Herrschaft in der Architektur antritt. Diese Baumeister bilden Träger der pompejanischen Säule, Fabriken den Wohnhäusern nach, wie später die ersten Bahnhöfe an Chalets sich anlehnen. »Die Konstruktion nimmt die Rolle des Unterbewußtseins ein.« Nichtsdestoweniger beginnt der Begriff des Ingenieurs, der aus den Revolutionskriegen stammt, sich durchzusetzen, und die Kämpfe zwischen Konstrukteur und Dekorateur, Ecole Polytechnique und Ecole des Beaux-Arts beginnen.

Erstmals in der Geschichte der Architektur tritt mit dem Eisen ein künstlicher Baustoff auf. Er unterliegt einer Entwicklung, deren Tempo sich im Laufe des Jahrhunderts beschleunigt. Sie erhält den entscheidenden Anstoß als sich herausstellt, daß die Lokomotive, mit der man seit Ende der zwanziger Jahre Versuche anstellte, nur auf eisernen Schienen verwendbar ist. Die Schiene wird der erste montierbare Eisenteil, die Vorgängerin des Trägers. Man vermeidet das Eisen bei Wohnbauten und verwendet es bei Passagen, Ausstellungshallen, Bahnhöfen – Bauten, die transitorischen Zwecken dienen. Gleichzeitig erweitert sich das architektonische Anwendungsgebiet des Glases. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen für seine gesteigerte Verwendung als Baustoff finden sich aber erst hundert Jahre später. Noch in der »Glasarchitektur« von Scheerbart (1914) tritt sie in den Zusammenhängen der Utopie auf.

»Chaque époque rêve la suivante.«

Michelet: Avenir! Avenir!

Der Form des neuen Produktionsmittels, die im Anfang noch von der des alten beherrscht wird (Marx), entsprechen im Kollektivbewußtsein Bilder, in denen das Neue sich mit dem Alten durchdringt. Diese Bilder sind Wunschbilder und in ihnen sucht das Kollektiv die Unfertigkeit des gesellschaftlichen Produkts sowie die Mängel der gesellschaftlichen Produktionsordnung sowohl aufzuheben wie zu verklären. Daneben tritt in diesen Wunschbildern das nachdrückliche Streben hervor, sich gegen das Veraltete – das heißt aber: gegen das Jüngstvergangene – abzusetzen. Diese Tendenzen weisen die Bildphantasie, die von dem Neuen ihren Anstoß erhielt, an das Urvergangne zurück. In dem Traum, in dem jeder Epoche die ihr folgende in Bildern vor Augen tritt, erscheint die letztere vermählt mit Elementen der Urgeschichte, das heißt einer klassenlosen Gesellschaft. Deren Erfahrungen, welche im Unbewußten des Kollektivs ihr Depot haben, erzeugen in Durchdringung mit dem Neuen die Utopie, die in tausend Konfigurationen des Lebens, von den dauernden Bauten bis zu den flüchtigen Moden, ihre Spur hinterlassen hat.

Diese Verhältnisse werden an der Fourierschen Utopie kenntlich. Deren innerster Anstoß liegt im Auftreten der Maschinen. Aber das kommt in ihren Darstellungen nicht unmittelbar zum Ausdruck; sie gehen von der Unmoral des Handelsgeschäfts sowie von der in seinem Dienste aufgebotenen falschen Moral aus. Das phalanstère soll die Menschen zu Verhältnissen zurückführen, in denen die Sittlichkeit sich erübrigt. Seine höchst komplizierte Organisation erscheint als Maschinerie. Die Verzahnungen der passions, das verwickelte Zusammenwirken der passions mécanistes mit der passion cabaliste sind primitive Analogiebildungen zur Maschine im Material der Psychologie. Diese Maschinerie aus Menschen produziert das Schlaraffenland, das uralte Wunschsymbol, das Fouriers Utopie mit neuem Leben erfüllt hat.

In den Passagen hat Fourier den architektonischen Kanon des phalanstère gesehen. Ihre reaktionäre Umbildung durch Fourier ist bezeichnend: während sie ursprünglich geschäftlichen Zwecken dienen, werden sie bei ihm Wohnstätten. Das phalanstère wird eine Stadt aus Passagen. Fourier etabliert in der strengen Formwelt des Empire die farbige Idylle des Biedermeier. Ihr Glanz dauert verblaßt bis auf Zola. Er nimmt die Ideen Fouriers in seinem »Travail« auf, wie er von den Passagen in der »Thérèse Raquin« Abschied nimmt. – Marx hat sich Carl Grün gegenüber schützend vor Fourier gestellt und dessen »kolossale Anschauung der Menschen« hervorgehoben. Auch hat er den Blick auf Fouriers Humor gelenkt. In der Tat ist Jean Paul in seiner »Levana« dem Pädagogen Fourier ebenso verwandt wie Scheerbart in seiner »Glasarchitektur« dem Utopisten Fourier.