III. Das höchste Gut und die Postulate


1. Das höchste Gut. Man könnte im Gegenteil Kant eher einer gewissen Inkonsequenz zeihen, weil er die aus den Grundbegriffen nicht nur der reinen, sondern auch der angewandten Ethik mit bewußter Absicht entfernten Begriffe der Vollkommenheit und Glückseligkeit nachträglich, wenn auch nur im Grenzgebiete von Moral und Religion, wieder zugelassen hat: durch den Begriff des höchsten Gutes. Das höchste Gut hat, wie wir sahen, in der späteren antiken Ethik, besonders bei den Stoikern und Epikureern, eine Hauptrolle gespielt. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf diesen Sachverhalt hat nun Kant zwar mit aller Deutlichkeit sich dagegen gewandt, dass das höchste Gut zum Bestimmungsgrunde des (sittlichen) Willens gemacht werde; es dürfe vielmehr erst »weit hinterher«, nämlich nach vollständig vollzogener Begründung der formalen Ethik, »dem nunmehr seiner Form nach a priori bestimmten Willen als Gegenstand vorgestellt werden« Folgerichtig müßte sein höchstes Gut lediglich ein anderer, mehr psychologisch gewandter Ausdruck für den Endzweck sein und, wie er an einer Stelle auch wirklich sagt, in der »Existenz vernünftiger Wesen unter moralischen Gesetzen« bestehen. Ähnlich heißt es in der Vorrede zur Religion innerhalb etc. (S. 7, Anm.): »Alle Menschen könnten hieran auch genug haben, wenn sie (wie sie sollten) sich bloß an die Vorschrift der reinen Vernunft im Gesetz hielten. Was brauchen sie den Ausgang ihres moralischen Tuns und Lassens zu wissen, den der Weltlauf herbeiführen wird? Für sie ist's genug, dass sie ihre Pflicht tun; es mag nun auch mit dem irdischen Leben alles aus sein, und wohl gar selbst in diesem Glückseligkeit und Würdigkeit niemals zusammentreffen« Allein er wollte wohl den Rigorismus, dessen Anschein er sich durch die schroffe Ablehnung des Glückseligkeitsprinzips auch in den Augen vieler Wohlgesinnten gegeben hatte, in der Ausführung möglichst mildern und vor allem mit seinen religiösen Anschauungen in Einklang bringen. Und so läßt denn seine Dialektik der reinen praktischen Vernunft zu dem »ganzen und vollendeten« Gut, außer der Tugend als oberster Bedingung, doch »auch« die Glückseligkeit gehören. Freilich nur als notwendige Folge der ersteren, des »obersten« Gutes, und in Unterordnung unter das Sittengesetz. Denn dem letzteren oder der es erzeugenden praktischen Vernunft kommt »das Primat« über die spekulative zu, da »alles Interesse zuletzt praktisch ist« Dieses praktische Interesse verlangt eben auch die Glückseligkeit, wenngleich nur unter der Voraussetzung und Bedingung der Glückwürdigkeit.

2. Die Postulate. So stellt Kant drei »Postulate der reinen praktischen Vernunft« auf, d.h. Sätze, die »theoretisch nicht erweislich« sind, daher auch wohl geradezu als »Glaubenssachen« bezeichnet werden, aber doch dem praktischen Gesetze »unzertrennlich anhängen« Es sind die Dogmen der Leibniz- Wolffschen Aufklärung und zugleich der Rousseauschen Philosophie: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, mit denen sein ganzes Zeitalter geschwängert war.

a) Die Freiheit (unseres Willens) wird nur gelegentlich als Postulat bezeichnet. Und in der Tat, wie könnte sich dieser mit der Autonomie identische »Grundbegriff aller unbedingt praktischen Gesetze«, von dem das selbst nicht weiter ableitbare Sittengesetz »nicht bloß die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit an Wesen beweist, die dies Gesetz als für sie verbindend anerkennen« (pr. V. 58), mit dem Geltungswerte eines bloßen Glaubenssatzes begnügen? - Deutlicher erscheint denn auch der Zusammenhang mit dem höchsten Gute und damit ihr eigentlicher Postulatcharakter bei den beiden anderen Postulaten: der Unsterblichkeit der Seele und dem Dasein Gottes.

b) Die oberste Bedingung des in der Welt zu verwirklichenden höchsten Gutes ist völlige Übereinstimmung unserer Gesinnung mit dem Sittengesetze. Eine solche Vollkommenheit aber oder Heiligkeit ist keinem vernünftigen Wesen hienieden möglich; sie kann also nur, wenigstens annähernd, durch einen unendlichen »Progressus« der »Heiligung« erreicht werden; dazu aber ist eine unendliche Fortdauer der Persönlichkeit, mithin Unsterblichkeit der Seele die notwendige Voraussetzung. Freilich ist die Aussicht auf ein beständiges Fortschreiten in einer seligen Zukunft auch für Kant nicht Gewißheit, sondern nur »tröstende Hoffnung«

c) Da Glückseligkeit die notwendige Folge der Sittlichkeit oder Glückwürdigkeit sein soll, es aber außer allem Vermögen des Menschen steht, dies aus eigener Kraft zu bewirken, so muß ein allmächtiges moralisches Wesen als Weltherrscher (Gott) angenommen werden, der die »genaue Übereinstimmung« der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit oder, wie es an späterer Stelle glücklicher formuliert wird, »des Reiches der Natur mit dem der Sitten« (deren beider Oberhaupt Gott ist) herzustellen imstande ist. »Die Moral führt unausbleiblich zur Religion.« Indessen will Kant, wie er in immer neuen Wendungen betont, die Selbständigkeit der Moral gegenüber der Theologie durchaus gewahrt wissen. Die moralische Frage: Was soll ich tun? hat mit der religiösen: Was darf ich hoffen? an sich nichts zu tun. Erst wenn die Moral »vollständig vorgetragen worden«, kann »der Schritt zur Religion« geschehen, erst dann - wie der methodisch etwas bedenkliche Ausdruck lautet - die Sittenlehre »auch Glückseligkeitslehre genannt werden« (pr. V. 156).

Mit unseren letzten Betrachtungen haben wir uns bereits auf dem Grenzgebiete der Ethik und der Religionsphilosophie bewegt. Wir haben nun noch einen kurzen Blick auf die letztere sowie auf weitere Sonderanwendungen der ethischen Grundgedanken zu werfen.


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