3. Die kritische Kosmologie


Steigt die Vernunft in der Reihe der objektiven Bedingungen der Erscheinungen immer höher hinauf, bis zu einem Unbedingten, so verwickelt sie sich unvermeidlich in einen »ganz natürlichen« Widerstreit mit sich selbst, der vor allem geeignet ist, sie aus ihrem »dogmatischen Schlummer« zu wecken. Diese »Antithetik« zerfällt, den vier Klassen der Kategorien entsprechend, in vier Antinomien, bei denen nacheinander der Gesichtspunkt der Zusammensetzung, der Teilung, der Entstehung und der Abhängigkeit in Frage kommt, und »Thesis« und »Antithesis« sich jedesmal widersprechen.

Es behaupten nämlich in der

Antinomie der

1. Quantität

die Thesis: Die Welt hat der Zeit und dem Raume nach einen Anfang bezw. eine Grenze.

die Antithesis: Die Welt hat keinen Anfang in der Zeit und dem Raume nach keine Grenzen.

2. Qualität

die Thesis: Alles in der Welt ist einfach oder aus Einfachem zusammengesetzt. die Antithesis: Nichts in der Welt ist einfach oder aus Einfachem zusammengesetzt.

3. Relation

die Thesis: Es gibt in der Welt eine Kausalität nach Freiheitsgesetzen (kürzer: Es existiert Freiheit in der Welt). die Antithesis: Es gibt keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Naturgesetzen.

4. Modalität

die Thesis: Es gehört zu der Welt, als ihre Ursache, ein schlechthin notwendiges Wesen. die Antithesis: Es gibt kein schlechthin notwendiges Wesen in der Welt, sondern alles in ihr ist zufällig.

Die beiden ersten heißen auch mathematische, die beiden letzten dynamische Antinomien. Beide Seiten, die Thesen wie die Antithesen, können »durch gleich einleuchtende, klare und unwiderstehliche Beweise« dargetan werden. Der Grund ist, dass ich in beiden Fällen unkritischerweise (nach der Anschauung des naiven, dogmatischen Realismus) Dinge an sich angenommen habe, wo doch nur unsere Vorstellungen von solchen vorhanden sind. Liegt aber der Widerspruch nicht in den vermeintlichen Gegenständen, sondern nur in unserer Auffassung von denselben, so ist eine Versöhnung und Lösung des Widerstreits möglich. Endlichkeit und Unendlichkeit, Teilbarkeit und Unteilbarkeit, Natur und Freiheit, Zufall und Notwendigkeit - alle diese uralten, schon von den antiken Denkern behandelten Probleme (auch der mit historischen Rückblicken so sparsame Systematiker Kant kommt hier auf die Atomistiker und Monadologen, Platoniker, Epikureer und Eleaten zu sprechen) sind als Ideen, d. i. regulative Prinzipien, zu begreifen. Wir können keine einzige Erfahrungstatsache aus ihnen ableiten, aber wir müssen »die Bedingungen der... Naturerscheinungen in einer solchen nirgend zu vollendenden Untersuchung verfolgen, als ob dieselbe an sich unendlich sei« (Kr. 700), als ob es eine Vollständigkeit der Bedingungen gäbe.

Auf die einzelnen Probleme dieses von Kant besonders ausführlich behandelten Kapitels (die Antinomienlehre umfaßt in der Originalausgabe 163 Seiten, d. i. über ein Sechstel des ganzen Werkes) kann hier nicht eingegangen werden. Nur ein Problem sei als Beispiel kurz hervor gehoben, weil es für die Grundlegung der Ethik in Betracht kommt (s. § 39, 1): das der Vereinigung von Kausalität (Naturnotwendigkeit) und Freiheit. Dieses sonst so unlösbar scheinende Problem, diese crux der Metaphysiker, löst sich ohne besondere Schwierigkeit, sobald wir uns das Verhältnis der Idee zu der ihr niemals vollkommen entsprechenden Erfahrung vor Augen stellen. Dann »kann ich ohne Widerspruch sagen: alle Handlungen vernünftiger Wesen, sofern sie Erscheinungen sind (in irgendeiner Erfahrung angetroffen werden), stehen unter der Naturnotwendigkeit, ebendieselben Handlungen aber, bloß respektive auf das vernünftige Subjekt und dessen Vermögen nach bloßer Vernunft zu handeln, sind frei«, denn »das Verhältnis der Handlungen zu objektiven Vernunftgründen ist kein Zeitverhältnis« (Proleg: § 63). Auf die Erscheinungen der Erfahrung behält das Kausalgesetz unbeschränkte Anwendung; »das Naturgesetz bleibt«, mag das vernünftige Wesen aus Vernunft, »mithin durch Freiheit«, handeln oder nicht; denn in ihren Wirkungen in der Erscheinung ist dieselbe jederzeit »den Naturgesetzen der Sinnlichkeit« unterworfen. Es läßt sich aber auch eine Kausalität denken, »die nicht Erscheinung ist«, d.h. nicht unter Zeitbedingungen steht, und nach dieser handelt das Subjekt als Noumenon. Jene erste Art zu wirken, genauer: Art des »Gesetze seiner Kausalität«, nennt Kant den empirischen, die zweite den intelligibelen Charakter des Subjekts. Der intelligibele Charakter erklärt Handlungen für notwendig, die nicht geschehen sind und vielleicht nie geschehen werden, und behauptet umgekehrt von anderen, die geschehen sind und nach dem Naturlauf geschehen mußten (z.B. ein Verbrechen), dass sie nicht hätten geschehen sollen. Im empirischen Charakter des Menschen ist jede Handlung, ehe sie noch geschieht, vorher bestimmt, während der intelligibele kein Vorher und Nachher kennt. Bei alledem ist zu beachten, dass die Freiheit »hier nur als transzendentale Idee behandelt wird« Kant erklärt zum Schlüsse des betr. Abschnittes (Kr. 585 f.) ausdrücklich, er habe damit nicht die Wirklichkeit, ja nicht einmal die Möglichkeit der Freiheit als wirkenden Vermögens beweisen wollen, sondern: »dass Natur der Kausalität aus Freiheit wenigstens nicht widerstreite, das war das einzige, was wir leisten konnten, und woran es uns auch einzig und allein gelegen war«.

In ähnlicher Weise, wie die dritte, wird die vierte Antinomie betr. Zufall und notwendiges Wesen aufgelöst. Sie führt uns unmittelbar zu der kritischen Theologie.


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