§ 32. Die transzendentale Methode und ihre
wichtigsten Grundbegriffe.


Kant nennt sein Hauptwerk, die Kritik der reinen Vernunft, einen »Traktat von der Methode«. Er will nicht eine »Philosophie«, die man »lernen« kann, sondern philosophieren lehren. Will man in den Sinn und Kern von Kants Philosophie eindringen, muß man sich daher zu allererst seiner Methode bemächtigen. Diese hat er selbst als die kritische oder transzendentale bezeichnet und sehr bestimmt von allen bisherigen, der dogmatischen wie der skeptischen, der empirischen und physischen wie der psychologischen, der logischen wie der metaphysischen, unterschieden.

1. Transzendental heißt nach Kants Definition *) »alle Erkenntnis, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt (1. Aufl.: mit unseren Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt) beschäftigt«. Kants Philosophie geht also - das ist das Nächste, was wir uns zu merken haben - nicht unmittelbar auf die sogenannten »Dinge«, sondern auf unsere Erkenntnis von den Dingen. Nicht die Erkenntnis muß sich nach den »Gegenständen«, sondern die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten; jeder Gegenstand löst sich bei näherer Betrachtung in ein Bündel von Vorstellungen auf. Dieser von Kant selbst als eine »Revolution der Denkungsart« bezeichnete und mit dem Verfahren des Kopernikus verglichene Gedanke macht seine Philosophie zu einer idealistischen, ihn selbst zum Erneuerer und Vollender Platos, zum Fortbildner von Descartes und Leibniz. Aber er bildet auch - das ist wohl zu beachten - nur erst den Ausgangspunkt des kritischen Denkens, das Eingangstor in die Kantsche Philosophie. Kant verwahrt sich an mehreren Stellen auf das entschiedenste dagegen, dass man seinen kritischen Idealismus mit dem gemeinen empirischen oder psychologischen und dessen Unterarten, nämlich dem skeptischen oder problematischen des Descartes, oder dem dogmatischen und mystischen (schwärmerischen) des »guten« Berkeley, verwechsele: es sei ihm nie in den Sinn gekommen, die Existenz der »Dinge« zu bezweifeln. Der naive Realismus kann sich also beruhigen, Kant will ihm seine »Dinge« nicht künstlich wegdisputieren. Kants »formaler«, »transzendentaler« oder »kritischer« Idealismus will vielmehr gerade die einzige Art zeigen, wie jene »Existenz der Dinge« wissenschaftlich zu begreifen ist.

2. Die transzendentale Methode geht auf diejenige Art der Erkenntnis, die »a priori möglich sein soll«. Damit stehen wir bei einem zweiten Grundbegriffe der Kantschen Philosophie: dem a priori. Wenn man Kants »a priori« begreifen will, so muß man zu allererst den zeitlichen Sinn des »Angeborenen« sich aus dem Sinne schlagen. Das psychologische Problem der ersten Entstehung unserer Vorstellungen interessiert die transzendentale Methode gar nicht. Die apriorische Erkenntnisart, z.B. in dem Satze: Jede Veränderung hat ihre Ursache, umfaßt diejenigen Erkenntnisse, deren wir uns deshalb »von vornherein« (a priori) völlig gewiß fühlen, weil sie nicht von den wechselnden Eindrücken der Sinne abhängen, sondern von gewissen letzten, nicht weiter ableitbaren Elementen unseres Bewußtseins. Das ist der nächste Sinn des a priori, nach Kant der »metaphysische«, im Gegensatz zu jener zeitlich-psychologischen Auffassung des »Angeborenen« Allein dies metaphysische a priori muß zum transzendental- a priori gesteigert oder genauer darauf beschränkt werden. Die einzigen Kennzeichen dieses letzteren aber sind »unbedingte Notwendigkeit« und »strenge Allgemeinheit«. Es ist die Bedingung, von der alle Erfahrung abhängt; ein Beispiel dafür sind alle mathematischen Sätze. Damit sind jene unbestimmten ursprünglichen Bewußtseinselemente zurückgeführt auf die Grundlagen und Bedingungen der Wissenschaft, ja in weiterem Sinne aller menschlichen Kultur überhaupt, die wir selbst in unserem Bewußtsein erzeugen: denn wir selbst legen das a priori in die Dinge.

3. Damit stehen wir bei der Antwort auf eine dritte Frage: was ist der Gegenstand der kritischen Methode? Darauf ist zunächst allgemein zu erwidern: die gesamte wissenschaftliche, sittliche und künstlerische Erfahrung der Menschheit. Transzendent heißen Erkenntnisse oder Begriffe, die über die Grenzen der Erfahrung hinausgehen. Demgegenüber bezeichnet Kant ausdrücklich als seinen Platz »das fruchtbare Bathos (= Tiefe) der Erfahrung« Er weiß wohl, dass »alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt« Transzendental bedeutet daher etwas, das zwar a priori vor der Erfahrung »vorhergeht«, aber doch »zu nichts Mehrerem bestimmt ist, als lediglich Erfahrungserkenntnis möglich zu machen« Die »Möglichkeit der Erfahrung« oder »die Bedingungen möglicher Erfahrung« darzutun, bezeichnet Kant immer wieder**) als die Aufgabe der kritischen Philosophie, sodass man diese auch (mit H. Cohen) als eine Theorie der Erfahrung bezeichnen kann. Sehen wir vorläufig von der moralischen und ästhetischen Erfahrung ab, so bedeutet das Problem der »Möglichkeit der Erfahrung« für Kant nichts anderes als: Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis, Möglichkeit der Wissenschaft überhaupt.

Neben den Tatsachen der sittlichen Ideen und der ästhetischen Gefühle steht das Faktum der Wissenschaft. Von diesem in gedruckten Büchern vorliegenden Faktum geht die transzendentale Methode aus; den Tatbestand der Wissenschaft will sie begründen, die Bedingungen ihrer Möglichkeit aufzeigen, ihre Voraussetzungen feststellen.

4. Das geschieht vermittelst der »Kritik« Kant stellt seinen Standpunkt als den kritischen dem Dogmatismus wie dem Skeptizismus der bisherigen Philosophen gegenüber: dem Dogmatismus, der ohne vorhergehende Prüfung des Vermögens oder Unvermögens der Vernunft die schwierigsten Probleme zu lösen sich anmaßt, und dem Skeptizismus, der, folgerichtig zu Ende gedacht, sich selbst auflöst und deshalb »gar keine ernstliche Meinung« ist, während er als »Zuchtmeister des dogmatischen Vernünftlers« von gutem Nutzen sein und die kritische Methode vorbereiten kann. Kants Kritizismus ***) ist Kritik des in Wissenschaft, Moral und Ästhetik vorhandenen Erkennens, also Erkenntniskritik.

Die kritische Methode unterscheidet sich demnach bewußt und grundsätzlich von anderen, an sich ebenso berechtigten, aber einen anderen Gesichtspunkt einnehmenden wissenschaftlichen Verfahrungsweisen. So z.B. von der formal logischen, die, von allem Inhalte der Erkenntnis absehend, sich bloß mit den Formen des Denkens beschäftigt. So weiter von der in der beschreibenden Natur, wie in der Geschichts-Wissenschaft so fruchtbaren entwicklungsgeschichtlichen (genetischen, bei Kant: physiologischen). Desgleichen von der heute noch von vielen für die philosophische Grundmethode gehaltenen psychologischen. So wichtig die Zergliederungen der Psychologie auch sind, so ist sie dennoch nicht die philosophische Grunddisziplin, sondern nur ein Teil der Naturwissenschaft, Wissenschaft gleichsam von der Innenseite derselben menschlichen Natur, deren Außenseite Physik und Naturbeschreibung erforschen und beschreiben. Ihr letzter Grund, ihre philosophische Voraussetzung ist die Erkenntniskritik, die ihr erst ihre Begriffe liefert und methodisch begründet. Psychologie kann uns wohl zeigen, wie Urteile und mit ihnen die gesamte wissenschaftliche Erfahrung entsteht, aber nicht, ob und weshalb sie notwendig ist. Das vermag nur eine Kritik oder Theorie des Erkennens, die weder erklären noch beschreiben will.

5. Wenn nun also die transzendentale oder kritische Methode weder dogmatisch noch skeptisch, weder logisch noch psychologisch, weder metaphysisch noch genetisch sein soll, was bleibt ihr dann noch übrig, um die »Möglichkeit der Erfahrung« darzutun?

Antwort: Ein lediglich »formales« und dennoch von der formalen Logik verschiedenes Verfahren, das darauf gerichtet ist, die gesamte Erfahrung zu »durchgängiger Einhelligkeit«, zur »Zusammenstimmung mit sich selbst«, kurzum zur Einheit zu bringen. Der »formale« Idealismus sucht die »formalen Bedingungen« der Erfahrung auf und verbindet sie zu systematischer Einheit. »Die Transzendentalphilosophie hat... die Verbindlichkeit, ihre Begriffe nach einem Prinzip aufzusuchen, weil sie aus dem Verstande als absoluter Einheit rein und unvermischt entspringen und daher selbst nach einem Begriffe oder einer Idee unter sich zusammenhängen müssen.« (Kr. d. r. V. 92.) Zusammenhang der Erkenntnis aus einem Prinzip aber oder systematische Einheit ist es, was Erkenntnis »allererst zur Wissenschaft macht« (Kr. 860 vgl. 673). Wie dies im einzelnen geschieht, wird unten zu zeigen sein.

6. Die gefundenen »formalen Bedingungen« der Erfahrung sind also zum System zu verbinden, d.h. nicht etwa zu einem dogmatisch-spekulativen, sondern zu einem kritischen »System der Nachforschung nach Grundsätzen der Einheit, zu welcher Erfahrung allein den Stoff hergeben kann« (Kr. 766). System bedeutet demnach in Kants Sinne nicht sowohl einen geschlossenen Zusammenhang fertiger Erkenntnisse, sondern den Zusammenhang der Methoden, nach denen der Inhalt der verschiedenen Erfahrungsgebiete sich in unserem Bewußtsein erzeugt und »nach Grundsätzen der Einheit« gestaltet. Diese voneinander unterschiedenen Erfahrungs- oder, was dasselbe ist, Bewußtseinsgebiete, deren jedes eine eigentümliche Richtung und damit Erzeugungsweise des Bewußtsein vertritt, sind: Natur (im weitesten Sinne des Wortes), Sittlichkeit und Kunst. Demzufolge zerfällt Kants System in: Wissenschaft (des Seienden), Ethik und Ästhetik. Die Begründung der Wissenschaft wird vor allem in der Kritik der reinen Vernunft (nebst den Prolegomenen), die der Ethik in der Kritik der praktischen Vernunft (nebst der Grundlegung), die der Ästhetik in dem ersten Teile der Kritik der Urteilskraft geliefert.

 

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*) Kr. d. r. V., 2. Aufl., S. 26. Ähnliche Definitionen siehe in dem Register zu meiner Ausgabe der Kr. d. r. V., S. 827. Für alle folgenden t. t. Kants sei gleichfalls auf dies erklärende Sachregister (S. 770-839) verwiesen. Wir zitieren nach den Seitenziffern der 2. Auflage. 

**) Der Ausdruck »Möglichkeit der Erfahrung« kommt nicht weniger als 50mal, derjenige »mögliche Erfahrung« sogar nicht weniger als 150 mal allein in der Kr. d. r, V. vor.

***) Diesen Namen für seine Philosophie zu gebrauchen, rechtfertigt schon der Titel seiner drei Hauptwerke, der Kritiken, wie er denn auch bereits zu Kants Lebzeiten aufgekommen ist. Kant selbst legte keinen Wert auf solche Schulnamen. Er hat in der 1. Auflage seiner Kr. d. r. V. überhaupt keinen Gesamtnamen für sein System vorgeschlagen - denn der »transzendentale Idealismus« bezieht sich nur auf einen, wenn auch wichtigen. Teil desselben -, in den Prolegomenen aber und der 2. Auflage die Bezeichnung als »formalen« oder »kritischen« Idealismus fürdie angemessenste erklärt, übrigens auch später wenig Gebrauch davon gemacht. Es blieb seinen Nachfolgern vorbehalten, anspruchsvolle »Systeme« des transzendentalen Idealismus, der Identität, des absoluten Idealismus, des Realismus usw. herauszugeben.


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