A. Die mathematischen Grundsätze des reinen Verstandes.
Sie zerfallen ihrerseits wieder in: a) Axiome der Anschauung, b) Antizipationen der Wahrnehmung. Auch den mathematischen Grundsätzen liegen reine Verstandessätze zugrunde. Das Prinzip der Möglichkeit der »Axiome der Anschauung« (selbst kein Axiom) oder der 1. Grundsatz lautet (nach der 2. Auflage): »Alle Anschauungen sind extensive Größen.« Der erste Gesichtspunkt, unter dem wir die Erscheinungen als Gegenstände bestimmen, ist die Größe, und zwar die ausgedehnte oder mathematische Größe, die in der Synthesis des mannigfaltigen Gleichartigen besteht. Die Raumgröße muß in sukzessiver Synthesis (Zusammensetzung) erzeugt werden, z.B. der Begriff der Linie durch die Zusammensetzung ihrer Teile; ebenso die Zeitgröße. Damit erst werden die allgemeinen Formen des Raumes und der Zeit zu »bestimmten« einzelnen Räumen und Zeiten: dadurch erst - nicht schon durch die transzendentale Ästhetik allein - wird die Mathematik der Ausdehnung oder die Geometrie, dadurch vor allem erst die Anwendung der reinen Mathematik auf die Gegenstände der naturwissenschaftlichen Erfahrung möglich. Alle Einwürfe dagegen, die auf der falschen Entgegensetzung von reiner und angewandter Mathematik beruhen, sind nur »Chikanen einer falsch belehrten Vernunft«.
Eine zweite Anwendung der Mathematik auf die Naturwissenschaft stellt der 2. Grundsatz dar: »In allen Erscheinungen hat das Reale, was ein Gegenstand der Empfindung ist, intensive Größe, d. i. einen Grad.«
Tiefer als die Zahleinheit, die der extensiven Größe zugrunde liegt, geht die Einheit der Realität, die Kant im letzten Grunde auf die »bloß subjektive« Empfindung zurückführt. Diese kann nicht unter den Begriff der Ausdehnungsgröße fallen, weil sie keine Anschauung ist, die Raum oder Zeit »enthielte« Aber es gibt doch anderseits zwischen der realen Empfindungsvorstellung und der Null, »d. i. dem gänzlich Leeren der Anschauung in der Zeit«, einen Unterschied, der eine Größe hat; zwischen jedem gegebenen Grade von Licht, Wärme, Schwere, Raumerfüllung und der gänzlichen Finsternis, Kälte, Leichtigkeit und Raumleere z.B. können immer noch kleinere Grade gedacht werden, wie auch zwischen irgendeinem Bewußtsein und dem völlig Unbewußten. In der apriorischen Erfassung dieses Empfindungsunterschiedes oder Grades liegen die »Antizipationen der Wahrnehmung«, die der zweite Grundsatz ausdrückt. Die »Realität« entsteht demnach durch Begrenzung der »Negation« und wird durch die »kontinuierliche und gleichförmige« Quantitätserzeugung, die wir in ihrem Schema (vgl. oben I. 3, b) kennen gelernt haben, zur intensiven Größe. Kontinuität (Stetigkeit) heißt »die Eigenschaft der Größen, wonach kein Teil von ihnen der kleinstmögliche (einfach) ist« Der Raum besteht nur aus Räumen, die Zeit nur aus Zeiten; Punkte und Augenblicke sind bloße Raum- bezw. Zeiteinschränkungen (-stellen); ein leerer Raum oder eine leere Zeit kann niemals empirisch bewiesen werden.