III. 1770


Die letzte vorkritische oder, wenn man will, die erste kritische Schrift ist die von Kant bei Antritt seiner ordentlichen Professur (1770) herausgegebene Inaugural-Dissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. In ihr haben wir schon eine deutliche Vorstufe der Vernunftkritik vor uns. Wenigstens bezüglich des einen Teiles der Erkenntnis, der sinnlichen, enthält sie bereits die entscheidende Wendung. Die Sinnlichkeit wird nicht mehr (mit Leibniz) als dunkle und verworrene Erkenntnis betrachtet, sondern als selbständiges Erkenntnisprinzip neben dasjenige des Verstandes gestellt. Und Raum und Zeit sind keine Begriffe mehr - als solcher war der Raum in der kleinen Abhandlung Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume (1768) noch gefaßt worden -, sondern Formen, d. i. Gesetze der Sinnlichkeit, denen als Stoff die Empfindung gegenübersteht. Als »Urbild der sinnlichen Erkenntnis« erscheint bereits die Geometrie, deren wissenschaftlicher Gegenstand der Raum ist, wie derjenige der Mechanik die Zeit, der der Arithmetik die der Raum- und Zeitvorstellung bedürftige Zahl (ebenda § 12). Kurz, wir haben in sehr wesentlichen Stücken schon die »transzendentale Ästhetik« des Hauptwerkes vor uns. Anderseits bleibt freilich die Sinnlichkeit immer noch niedriger gestellt als der Verstand: während sie die Dinge nur erkennt, wie sie erscheinen, geben uns die Verstandesbegriffe die Dinge, wie sie sind. Die Natur der Verstandesbegriffe jedoch wird noch nicht positiv bestimmt; sie werden noch in der Weise der alten Metaphysik auf Gott als den Urgrund aller Dinge zurückgeführt. Vor allem aber ist die Verbindung von Anschauung und Begriff zur Einheit der Erfahrung noch nicht vorhanden; erst die Entdeckung der Kategorien führte zu diesem entscheidenden Punkte der »transzendentalen« Methode.


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