§ 43. Angewandte Ästhetik.


Die Analytik der ästhetischen Urteilskraft zerfällt, gemäß der zu Kants Zeiten herkömmlichen Einteilung des ästhetischen Stoffes, in die des Schönen und des Erhabenen. Was dem Schönen und Erhabenen gemeinsam ist, haben wir schon in der allgemeinen Charakterisierung des ästhetischen Gefühls (§ 42, 2) dargelegt. Das meiste davon bringt Kant bereits in seiner Charakteristik des Schönen, dessen Definition als desjenigen, »was in der bloßen Beurteilung, weder vermittelst der Sinnenempfindung noch durch Begriffe, mit subjektiver Notwendigkeit allgemein, unmittelbar und ohne alles Interesse gefällt«, alle jene von uns erkannten Attribute des ästhetischen Gefühls überhaupt enthält. Im folgenden sollen daher nur die hervorragendsten Sondereigenschaften des Schönen und namentlich des Erhabenen angegeben werden.

1. Das Schöne erhält das Gemüt in ruhiger Kontemplation; wir weilen in seiner Betrachtung. Es betrifft lediglich die Form des Gegenstandes, die in seiner Begrenzung besteht. Nur reine Farben und Töne sind schön, Kant unterscheidet ferner »freie«, für sich bestehende Schönheit (z.B. von Blumen, Arabesken, Musik ohne Text) und »anhängende«, durch einen Begriff (z.B. des Pferdes, eines Gebäudes, des Menschen) bedingte; ferner vage und fixierte, wilde und regelmäßige, vor allem aber die Schönheit der Kunst und der Natur, wobei er der letzteren den Vorzug zuerkennt. Ein Schönheitsideal ist nur vom Menschen möglich, weil nur dieser den Endzweck seines Daseins in sich selbst tragt. Das Ideal des Schönen ist etwas anderes als seine Normalidee (z.B. die eines Europäers), die nur ein Mittleres, einen Durchschnitt der Erfahrung darstellt; es besteht in dem sichtbaren Ausdruck des Sittlichen. Das Schöne kann daher auch als »Symbol« der Sittlichkeit bezeichnet werden [womit die Ästhetik freilich zu nahe an die Ethik herangerückt wird]. Im Unterschied vom Schönen gefällt

2. Das Erhabene durch seinen Geschmack am Formlosen, Unbegrenzten, Unendlichen, durch seinen Widerstand gegen das Sinneninteresse. Nicht Verstand und Einbildungskraft, wie beim Schönen, sondern Einbildungskraft und Vernunft befinden sich jetzt im »freien Spiele« miteinander. Das Gefühl des Erhabenen ist nicht mit einem Gefühl der Lebensförderung, sondern eher der Lebenshemmung, allerdings mit unmittelbar folgender, um so stärkerer Ergießung verbunden; es geht nicht aus der Harmonie, sondern aus dem Kontrast hervor. Es ist nicht mit Reizen vereinbar, dagegen in höherem Grad als das Schöne mit dem moralischen Gefühle verwandt. Man empfindet in seiner Nähe einen heiligen Schauer. Das Wohlgefallen daran ist mehr Achtung oder Bewunderung als Lust. Das Erhabene liegt noch weniger als das Schöne in den Gegenständen, noch mehr in unserem Gemüte, unseren Ideen. Es zerfällt, je nachdem es auf das Erkenntnis- oder auf das Begehrungsvermögen bezogen wird, in 1) das Mathematisch- und 2) das Dynamisch-Erhabene. Das Mathematisch-Erhabene wirkt durch seine schlechthinnige Größe, als das, »mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist«, von den »Weltgrößen« des Teleskops bis zudem Unendlich-Kleinen, zu dem das Mikroskop vergeblich vorzudringen versucht. Denn die ästhetische Größenschätzung ist eine andere als die mathematische; sie geht auf das Übersinnliche. Das Dynamisch-Erhabene hat es nicht mit unermeßlichen Größen und Zahlen zu tun, sondern mit der Natur als einer unwiderstehlichen Macht, die Furcht erregt, und der wir uns gleichwohl durch unsere Persönlichkeit, nämlich das Gefühl der Erhabenheit unserer eigenen Bestimmung, überlegen fühlen. Diese Erhabenheit unserer Denkungsart steigert sich einerseits zum Enthusiasmus, anderseits zu der vielleicht noch erhabeneren Affektlosigkeit. Erhaben ist der Heldenmut (»selbst« im Kriege, »wenn er mit Ordnung und Heilighaltung der bürgerlichen Rechte geführt wird«), erhaben die Idee Gottes, erhaben vor allem das Sittengesetz [§ 40, II, 2, wodurch der Zusammenhang der Ästhetik mit der Ethik hergestellt wird].

Von anderen ästhetischen Begriffen erfahren nebenher eine gelegentliche Beleuchtung: das Häßliche, das Launige, das der Verwandlung einer gespannten Erwartung in ein Nichts entspringt, und besonders das Naive (die Einfalt der unverdorbenen Natur).

3. Die einzelnen Künste. Nur einen »Entwurf«, nicht eine vollständige Theorie zu einer Einteilung der schönen Künste will Kant liefern. Das Einteilungsprinzip ist der Ausdruck, nach seinen drei verschiedenen Mitteln: Wort, Gebärdung und Ton für Gedanke, Anschauung und Empfindung. Danach zerfallen die schönen Künste in die redenden (Beredsamkeit, Dichtkunst), die bildenden (Plastik, Malerei und Architektur) und die des schönen Spiels der Empfindungen (Musik und - »Farbenkunst«). Beredsamkeit und malerische Darstellung verbinden sich im Schauspiel, Poesie und Musik im Gesang und, wenn außerdem noch die malerische (theatralische) Darstellung hinzutritt, in der Oper, Musik und »Spiel der Gestalten« im Tanz, Erhabenheit (des Inhalts) und Schönheit (der Form) im Trauerspiel oder Oratorium usw. Am wenigsten hält Kant von der ihm zu rhetorisch und nicht ehrlich genug dünkenden Kunst der Beredsamkeit. Am höchsten stellt er die Dichtkunst, weil sie »fast gänzlich« dem Genie ihren Ursprung verdankt, mit dem Scheine spielt, ohne doch zu betrügen, das Gemüt durch Ideen stärkt und erweitert und mit einer Gedankenfülle nährt, die dem wissenschaftlichen Begriffe versagt ist. Was Reiz und Bewegung des Gemüts angeht, steht der Poesie die Tonkunst am nächsten. Wenn sie auch nur durch Empfindungen ohne Begriffe spricht, so ergreift sie doch das Gemüt »mannigfaltiger und inniglicher«. Als »Sprache der Affekte« ist sie jedem verständlich, durch ihre Behandlung eines Themas ruft auch sie eine unnennbare Gedankenfülle in uns hervor. Reinheit kann dem Ton (wie der Farbe) nur durch ihre mathematische Form (Proportion) verliehen werden, die in der Zusammensetzung der Harmonie und Melodie zum Ausdruck kommt.*) Was dagegen die »Kultur« des Gemüts betrifft, so stehen die bildenden Künste weit höher als die Musik. Sie sind von bleibendem, diese nur von vorübergehendem Eindruck; sie leiten von bestimmten Ideen zu Empfindungen, die Musik nur von Empfindungen zu unbestimmten Ideen. Der Malerei gibt Kant vor der Plastik den Vorzug, nicht bloß darum, weil sie als »Zeichnungskunst« den übrigen bildenden Künsten zugrunde liegt, sondern auch, weil sie »weit mehr in die Region der Ideen einzudringen« vermag.

4. Schluß. Wahrheit ist zwar die Grundvoraussetzung der schönen Kunst, aber diese nicht selber. Das Kunstwerk kann nicht wissenschaftlich gelehrt, sondern muß vom Meister »vorgemacht« werden, nach dem Ideal, das ihm vor Augen steht. Die wahre Propädeutik zur schönen Kunst besteht nicht in einzelnen Vorschriften, sondern in der »Kultur der Gemütskräfte«, in der Humanität, nicht bloß als »allgemeinem Teilnehmungsgefühl«, sondern zugleich auch als Vermögen, »sich innigst und allgemein mitteilen zu können« Die Ästhetik vollendet erst den ganzen Menschen. Und die ewigen Muster dieser Kunst bieten die Griechen in ihrer glücklichen Vereinigung höchster Kultur mit freier, kräftiger Natur.

Erwägt man diese Gedanken Kants, erinnert man sich seiner tiefsinnigen Lehre vom Genie, so wird man nicht mit seinem Gegner Herder von seinem »tonlosen Gemüte« sprechen. Man wird im Gegenteil bewundern, dass er trotz des in seiner Naturanlage wie seinem Bildungsgange wurzelnden Mangels an lebendiger Kunstanschauung so tief in das Wesen aller Kunst einzudringen vermochte. Und man wird begreifen, dass gerade im Hinblick auf seine Kritik der Urteilskraft die beiden großen schaffenden Künstler, Schiller und Goethe, sich als die Jünger des großen philosophischen Systematikers bekannten. Denn Kants Aufgabe war jenen gegenüber die philosophischsystematische: die Selbständigkeit und Eigenart des künstlerischen Schaffens neben dem wissenschaftlichen und sittlichen in seiner Gesetzlichkeit zu begründen und so den Ring seines Systems zu schließen, das alle drei großen Gebiete des menschlichen Bewußtseins und der menschlichen Kultur umfaßt.

 

_________________

*) Vgl. Franz Marschner, Kants Bedeutung für die Musik-Ästhetik der Gegenwart, Kantstudien VI, 19-40, 206-243.


 © textlog.de 2004 • 07.12.2024 04:03:10 •
Seite zuletzt aktualisiert: 01.11.2006 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright