§ 41. Angewandte Ethik: Tugend- und Erziehungslehre; Rechts-, Staats- und Geschichtsphilosophie; Religionslehre.
Die methodisch-systematischen Grundlagen der Kantischen Ethik mußten genauer auseinander gesetzt werden. Ihre Anwendungen können wir, so interessante Einzelheiten sie auch bieten, hier nur in kurzem Überblicke mustern.
1. Die Tugendlehre bildet die zweite Hälfte eines der spätesten Werke Kants, seiner Metaphysik der Sitten. Sie enthält zwar einleitend und gelegentlich auch später wichtige methodische Winke, will aber im Grunde nur angewandte Ethik, Pflichtenlehre sein. Ihr Ziel und Gesichtspunkt ist: Eigene Vollkommenheit - fremde Glückseligkeit. Sie behandelt zunächst das moralische Gefühl, das Gewissen, die Gefühle der Achtung und der Liebe und unterscheidet sodann die Tugendpflichten als »innere« von den »äußeren« oder Rechtspflichten (s. unten Nr. 3). Die ersteren zerfallen in solche gegen die eigene Person (als animalisches wie als moralisches Wesen, vollkommene und unvollkommene) und gegen die anderen Menschen (Liebesund Achtungspflichten, die sich verbinden in der Freundschaft). Die Lehre von den Pflichten gegen Gott (Religionslehre) fällt außerhalb der Grenzen der reinen Moralphilosophie. Den einzelnen Abschnitten sind in der Regel einige »kasuistische Fragen« angefügt, die gewisse verwickelte Fälle, sogenannte »Konflikte der Pflichten«, zur Lösung aufgeben. Die auch hier den Schluß bildende »Methodenlehre« zerfällt in eine ethische »Didaktik« und »Asketik« Mit den beiden letztgenannten Abschnitten ist der Übergang zu Kants
2. Erziehungslehre gegeben, die natürlich, wie die Tugendlehre, ganz auf den sittlichen Grundanschauungen des Philosophen fußt. Schon der »ethischen Didaktik« ist als »Anmerkung« das »Bruchstück eines moralischen Katechismus«, in Fragen und Antworten von Lehrer und Schüler, beigegeben, der dem Religionskatechismus »Jederzeit« vorangehen müsse. Eine systematische Pädagogik auszuarbeiten haben Kant seine großen systematischen Werke auf dem Gebiete der reinen Philosophie nicht die Zeit gelassen. Doch war er von lebhaftestem Interesse für die pädagogischen Reformbestrebungen seiner Zeit (Rousseaus Emil, Basedows Philanthropin) erfüllt. Die ein Jahr vor seinem Tode von Rink herausgegebene Schrift Kant über Pädagogik enthält zahlreiche, für seine Vorlesungen niedergeschriebene treffliche Einzelbemerkungen über Erziehung, welche nicht sowohl den abstrakten und »rigoristischen« Philosophen als den echten und duldsamen Menschenkenner verraten. Wohl weist er auch hier immer wieder auf die »einfache Vorstellung der reinen Pflicht als die weitaus« mächtigste, ja »einzig dauernde« Triebfeder hin, und die »Revolution der Denkungsart« soll der »Reform der Sinnesart« vorausgehen. Aber die ethische Didaktik hat die Verschiedenheit des Alters, Standes und Geschlechtes »weislich und pünktlich« zu beachten, und um den Menschen aus der ersten »Rohigkeit« zu bringen, wird zunächst ein »gleichsam provisorisches« Verfahren gestattet, das auch die Anlockung durch den eigenen Vorteil nicht verschmäht; denn »der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung«. Das Ziel ist, wie bei der Ethik, die Idee nicht der gegenwärtigen, sondern der zukünftigen Menschheit; das Verfahren durch die Rousseauschen Grundsätze der Freiheit und Natürlichkeit bestimmt. Zwang muß sein, aber er soll zur Freiheit führen. Im allgemeinen zieht Kant zwar die öffentliche der Privaterziehung vor, aber er will sie keineswegs einseitig vom Staate und in dessen oder gar der Fürsten Interesse ausgeübt wissen. Neben dem Gehorsam dringt er vor allem auf Wahrhaftigkeit. Auch die körperliche Erziehung (sogar die Ernährung des Säuglings!) wird ziemlich ausführlich behandelt, von den einzelnen Unterrichtsfächern nur die Religion.
3. Rechts- und Staatslehre. Den anderen Teil der Metaphysik der Sitten (neben der Tugendlehre) bildet die »Rechtslehre« oder vielmehr deren »metaphysische Anfangsgründe«, also die Rechtsphilosophie. Im Gegensatz zur Ethik behandelt sie den Inbegriff der äußeren Gesetzgebung oder »die Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann«, und zwar: 1. das Privatrecht (Eigentums-, Sach-, persönliches, Familien-, Vertrags-, Erbrecht), 2. das öffentliche (Staats-, Völker-, Weltbürger-) Recht. Im Strafrecht, das zwischen beide fällt, hält Kant an einer strengen Vergeltungstheorie fest, tritt daher auch energisch zugunsten der Todesstrafe ein. Prinzip ist überall der kategorische Imperativ: Fiat iustitia pereat mundus, d.h.: »Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, dass Menschen auf Erden leben.«
In engster Verbindung mit Kants Rechtsphilosophie steht seine Staatslehre. Seine politische Auffassung ist die eines entschiedenen Liberalismus, wie er denn an seiner Begeisterung für die Prinzipien der Französischen Revolution, auch nach deren Ausschreitungen, festhielt. Sein Staatsideal der vom kategorischen Imperativ geforderte Rechtsstaat: »die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen«, und zwar unter einer Verfassung, nach der »die Freiheit eines jeden ihrer Glieder nur durch die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit aller anderen eingeschränkt ist«. Die notwendigen Eigenschaften des Staatsbürgers sind gesetzliche Freiheit, rechtliche Gleichheit und bürgerliche Selbständigkeit, wobei freilich die Dienstboten, Tagelöhner und »alles Frauenzimmer« nicht als volle Bürger, sondern nur als »Staatsgenossen« anerkannt werden. Von der liberalen englisch-französischen Staatsphilosophie (Locke, Montesquieu) übernimmt er im wesentlichen die Lehre von den drei Gewalten: der gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden, und die Forderung des Repräsentativsystems; von Rousseau eine eigenartige Mischung demokratischer und staatsabsolutistischer Gedanken. Dass er darüber hinaus an manchen Stellen auch schon modern-soziale Anschauungen geäußert hat, habe ich an anderer Stelle näher ausgeführt. Und dass er zugleich gegen den Gedanken der historischen Entwicklung keineswegs, wie man wohl heute noch liest, blind war, zeigt schon die Existenz seiner
4. Geschichtsphilosophie, die hauptsächlich in den § 30 zu den Jahren 1784, 1786 und 1795 zitierten Abhandlungen vorliegt; dazu kommen noch: die Rezension von Herders Ideen (1785) und die Abhandlung über Theorie und Praxis (1793) in ihrem 2. und 3. Teile. Der tragende Grundgedanke ist freilich ein teleologisch-rationalistischer: der Glaube an den Fortschritt der Menschheit als Gattung. Nur von dem Gesichtspunkt des Zieles aus läßt sich nach Kant Menschengeschichte philosophisch verstehen und beurteilen. Als »mutmaßlichen« Urzustand denkt er sich, mit Rousseau und unter rationalistischer Auslegung des mosaischen Berichtes, den der rein tierischen Natur. Alle seine Fähigkeiten (Stehen, Gehen, Sprechen) mußte der Mensch sich erst selbst erwerben.
Anfänglich war er bloß durch den Instinkt (zur Nahrung, zum Geschlecht usw.) geleitet. Allmählich erwacht die Vernunft und führt ihn zur freien Auswahl seiner Lebensweise, zur freien Zuneigung zu den Mitmenschen, zu überlegter Erwartung und Berechnung des Künftigen, bis er endlich die Natur als Mittel und Werkzeug zur Erfüllung seiner Zwecke benutzen lernt. Indem er sich frei fühlt, tritt er »aus dem Mutterschoße der Natur« in die Welt ein; die Geschichte der Menschheit und ihrer Kultur ist die Geschichte der Freiheit. Nun beginnt ein sich immer mehr steigender »Antagonismus« der Kräfte und Leidenschaften; jeder Fortschritt der. Kultur wird mit einer Abnahme der natürlichen Glückseligkeit erkauft. Aber gerade aus diesem Antagonismus erwächst allmählich die Notwendigkeit gesetzmäßiger Ordnung in einer »bürgerlichen Gesellschaft« Die Bestimmung des Menschengeschlechts ist nicht Glückseligkeit des einzelnen, sondern Erreichung des oben dargelegten Endzwecks, wo »vollkommene Kunst wieder Natur wird«. Und, da die Geschichte der Menschheit in der Entwicklung des äußeren Zusammenlebens vernünftiger Wesen besteht, so ist ihr Ziel ein politisches: die Herbeiführung einer »vollkommen gerechten bürgerlichen Verfassung« (vgl. 3.), eines Zustandes, in dem alle natürlichen Anlagen der Menschheit ihrer Bestimmung gemäß sich entwickeln können, wo man nicht mehr »Vorteile genießt, um deren willen andere desto mehr entbehren müssen«. Und zwar nicht bloß für ein Volk, sondern (wenigstens ideell) für die gesamte Menschheit, die durch Ausbildung des Völkerund des noch höheren Weltbürgerrechts zu einem idealen Staatenbunde zusammenwachsen soll, vereinigt durch die Bestimmungen (»Artikel«) eines »ewigen Friedens«. Kant war kein utopistischer Träumer. Er weiß genau, welche ungeheuren Schwierigkeiten der Verwirklichung dieses höchsten, aber auch »schwersten Problems der Menschengattung« entgegenstehen, ja er entwickelt sie selbst, aber er stellt den ewigen Frieden nichtsdestoweniger als eine Idee hin, die, »obgleich nur in einer ins Unendliche fortschreitenden Annäherung«, wirklich zu machen Pflicht sei, als eine Aufgabe, deren Lösung wir anstreben sollen. Denn auch die Politik muß angewandte Ethik sein.
5. Angewandte Ethik ist schließlich auch Kants Religionslehre. Ein bestimmtes Sondergebiet des Bewußtseins, etwa wie Schleiermacher später das Gefühl, stellt Kant für die Religion nicht fest. Sie wird zwar oft und streng von der reinen Ethik unterschieden, aber dass sie ihm im Grunde nichts anderes als angewandte Ethik ist, bezeugt schon ihre Definition als »Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote« Ja, sie ist es in dem Grade, dass die beiden ersten Kapitel seiner Religionsschrift (über ein Drittel des Ganzen) zwei durchaus ethische Themata behandeln: das »radikale Böse in der menschlichen Natur« und den »Kampf des guten Prinzips mit dem bösen um die Herrschaft über den Menschen«. Es liegt nämlich im Menschen von Natur ein Hang zum Bösen, d.h. zur Umkehrung der Triebfedern: statt dem erkannten Sittengesetze seine sinnlichen Triebe unterzuordnen, das Umgekehrte zu tun. Um diesen Hang zu überwinden, bedarf es einer »Revolution der Denkungsart«, einer »einzigen unwandelbaren Entschließung«, einer völligen »Wiedergeburt« seines besseren Menschen. Nur so kann ein moralischer Charakter gegründet und eine allmähliche »Reform der Sinnesart« bewirkt werden. Die moralische Religion ist weder die des bloßen Kultus, d. i. der Gunstbewerbung, noch die einer falschen Demut und Zerknirschung, sondern die des guten Lebenswandels; hat einer nach seinen besten Kräften das Gute erstrebt, so kann er hoffen, »was nicht in seinem Vermögen ist, werde durch höhere Mitwirkung ergänzt werden«.
Wie ein politisches, so ist auch ein ideales ethisches Gemeinwesen zu erstreben, vom religiösen Gesichtspunkt aus betrachtet: »ein Volk Gottes unter Tugendgesetzen« Der Sieg des guten Prinzips über das böse führt zur »Gründung eines Reiches Gottes auf Erden«, einer »unsichtbaren Kirche« Diese ist von der sichtbaren Kirche ebenso zu unterscheiden, wie der reine oder moralische, auf Vernunft gegründete Religionsglaube vom historischen oder statutarischen, auf Offenbarung sich gründenden Kirchenglauben. Zwar ist der letztere um der menschlichen Schwäche willen nicht ganz zu entbehren, aber er muß sich immer mehr vom »Afterdienst« und »Pfaffentum« zum wahren Gottesdienst im Geiste und in der Wahrheit erheben. Der Kampf zwischen beiden bildet den ganzen Inhalt der bisherigen Kirchengeschichte. »Bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes« aber ist »alles, was außer dem guten Lebenswandel der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden« Der reine Religionsglaube muß stets der höchste Ausleger des historischen Glaubens bleiben; je mehr der letztere sich dem ersteren nähert, desto näher kommen wir dem »Reiche Gottes«.
Nun ist zwar der historische Glaube an sich »tot«, d.h. moralisch vollkommen wertlos. Aber, da Kant nun einmal die einzige von allen »öffentlichen« Religionen, die den Namen einer wahrhaft moralischen verdient, im Christentum erblickt, so ist sein Streben darauf gerichtet, die Hauptlehren desselben - nicht etwa flachrationalistisch umzudeuten, sondern in bewußt ausgesprochener Absicht moralisch auszulegen, wie es einer »rein philosophischen« Religionslehre, einer »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« geziemt.*) So heißt »an Christus glauben« nicht: den historischen Bericht über Jesu Leben als wahr annehmen, sondern: das Ideal des vollkommenen, Gott wohlgefälligen Menschen in sich aufnehmen, um es zu verwirklichen. Unser wahrer »Tröster (Paraklet)« ist das Bewußtsein einer guten und lauteren Gesinnung; Himmel und Hölle sind nur Bilder für das Sittlich-Gute und Sittlich-Böse. »Wiedergeburt« und »Rechtfertigung« sind schon oben gestreift worden. Die »stellvertretende Genugtuung« übernimmt der wiedergeborene »neue Mensch« selber, indem er die ihm durch seine sittliche Umkehr auferlegten, dem »alten Adam« in uns erwachsenden Opfer und Leiden freiwillig auf sich nimmt.
Ebensowenig hat der Wunderglaube als bloßes »Nachsagen unbegreiflicher Dinge« den geringsten sittlich-religiösen Wert; im praktischen und wissenschaftlichen Leben glaubt man nicht an Wunder, und die Beschränkung auf die Vergangenheit und seltene Ausnahmen macht sie nicht glaubenswerter. Von den christlichen Mysterien läßt sich die Trinität als Glaube an einen heiligen Gesetzgeber, gütigen Regierer und gerechten Richter moralisch begreifen; ähnlich verhält es sich mit den Dogmen der Berufung und Erwählung. Von den sogenannten »Gnadenmitteln« besteht das wahre Beten in dem Geist des Gebets, d.h. der sittlichen Gesinnung, die »ohne Unterlaß« unser ganzes Handeln begleiten soll, »als ob es im Dienste Gottes geschehe«; Kirchengehen, Taufe und Abendmahl sollen nur Symbole der sittlichen Gemeinschaft sein. Kurzum: die wahre Religionsgesinnung besteht im guten Lebenswandel des »natürlichen, ehrlichen Mannes«. Der rechte Weg geht nicht von der Begnadigung zur Tugend, sondern umgekehrt.
Literatur: Vgl. die Einführungen und Register meiner S. 177 angeführten Ausgaben der betr. Kantischen Schriften; außerdem die zweite Auflage (1910) von Cohens zu § 39 und § 72 angeführten Werke, Teil IV: Die Anwendung der ethischen Prinzipen (S. 370-557). Über Kants Staats- und Geschichtsphilosophie vgl. K. Vorländer, Kant und Marx. Tübingen 1911; Kant und Rousseau in: Neue Zeit 1918/19, Nr. 20 ff; Kant als Deutscher, Darmstadt 1919; Kant und der Gedanke des Völkerbundes, Lpz. 1919. - Über seine Religionsphilosophie E. Troeltsch, Das Historische in Kants Religionsphilosophie. Berlin 1904. - W. Schwarz, Kant als Pädagoge. Langensalza 1915.
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*) Über Kants persönliche religiöse Stellung und Entwicklung vgl. die Einleitung zu meiner Ausgabe der Religion innerhalb usw., S. V - XXVII.