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Tierverstand

Man braucht nicht Philosoph zu sein, um einen bedeutenden Unterschied zwischen den geistigen Leistungen der Menschen und Tiere zu bemerken, man muß aber wohl ein "Philosoph" sein und von dem unheilvollen Streben geleitet werden, die unendliche Mannigfaltigkeit der Natur auf sprachliche Begriffe zu bringen, um das Tier vom Menschen durch irgend ein Wort zu trennen. Wir empfinden es heute als eine Brutalität, dass Descartes die Menschen als allein beseelte Wesen von den unbeseelten, maschinenmäßigen Tieren loszulösen suchte. Aber heute noch wird unter den Psychologen darüber gestritten, ob dem Menschen allein Verstand und Vernunft zukomme und den Tieren bloß Verstand. Kant nimmt an, dass die Tiere nicht einmal Verstand haben (sein Sprachgebrauch ist allerdings für den Ausdruck Verstand sehr schwankend), dass sie bloß Sinneseindrücke und Erinnerungen besitzen, aber die Gegenstände der Außenwelt nicht als Objekte Wahrnehmen; Schopenhauer hat dagegen versichert (ich habe seinen Wortgebrauch cum beneficio inventarii angenommen), die Tiere, selbst die unvollkommensten, hätten Verstand, gerade weil sie Objekte erkennen und weil zum Erkennen außer den Sinnesorganen auch der Verstand gehört. Noiré hat zwischen Kant und Schopenhauer dialektisch zu vermitteln versucht; aber schließlich spricht auch er den Tieren das Erkennen von Gegenständen ab und grausamerweise sogar die eigentliche Erinnerung. Man könne nicht sagen: das Tier erinnert sich; man müsse sagen: es wird durch das Objekt erinnert. Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an, wenn solche Ausnahmeköpfe wie Kant und Schopenhauer dergestalt von der Sprache in die Irre geführt werden und wenn ein immerhin ehrlicher Forscher wie Noire mit solcher Ruchlosigkeit die Entfernung zwischen Tier und Mensch zu vergrößern sucht.

Für alle Tierbeobachter oder Tierfreunde liegt es unwillkürlich nahe, zwischen Tierverstand und Menschenverstand nur einen Gradunterschied zu sehen; der Zweifel an der wissenschaftlichen Brauchbarkeit unserer psychologischen Begriffe muß natürlich zu der gleichen Anschauung führen. Die Behauptung, dass kein Tier etwas schaffe, dass kein Tier sich eines Werkzeugs bediene, dass kein Tier eine vermittelte Wirkung hervorzubringen vermöge — diese Behauptung deutet ja recht gut auf die Punkte hin, wo Tierverstand nicht an den Menschenverstand heranreicht; kein Tier hat eine, Eisenbahn gebaut, kein Tier bedient sich einer Nähmaschine, kein Tier dreht die Kurbel am Telephon, um ein Stelldichein zu verabreden. Ganz richtig. Aber die Begriffe des Schaffens, des Werkzeugs und der Mittelbarkeit müssen erst eng und menschenhochmütig definiert werden, um allen Tieren abgesprochen Werden zu können. Beim Nestbau wird geschaffen, der Hund, der an der Tür kratzt, verfolgt seinen Zweck mittelbar, und die Gliedmaßen (Füße, Flügel, Zähne) werden als Werkzeuge gebraucht.

Dass aber zwischen Tierverstand und Menschenverstand nur ein Gradunterschied bestehe, das bleibt so lange eine unklare Redensart, als wir nicht die Art der geistigen Tätigkeit näher bestimmen, welche bei Tieren und Menschen dem Grade nach verschieden ist. Das ist aber diejenige Tätigkeit, welche wir bald in ihrer Kraft, bald in der Sammlung ihrer Kraftleistungen das Gedächtnis nennen. Es ist vorhin die. wie ich glaube, fruchtbare Bemerkung gemacht worden, dass Verstandestätigkeit sich auf die Gegenwart beziehe. Entspricht das dem Sprachgebrauch, so können wir wieder die Ausdrucksweise Schopenhauers für uns in Anspruch nehmen, der den Tieren den Verstand gibt, um ihnen die Vernunft zu nehmen. Es ist gewiß richtig, dass die Tiere ein viel geringeres , ein anders arbeitendes Gedächtnis haben als wir, dass sie darum in äußerst hohem Grade in den Kreis der Gegenwart gebannt sind, dass sie ihre Erinnerungen nicht in so außerordentlicher Weise kombinieren können wie wir; und das ist es im Grunde, was allein Schopenhauer meinen kann.