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Vernunft etwas Gewordenes

Wer es unternähme, uneingedenk der Unlösbarkeit der Aufgabe, eine Geschichte der menschlichen Vernunft zu schreiben, hätte sich wohl die revolutionärste Aufgabe gestellt, die die Vernunft sich überhaupt stellen kann. Nahm doch die größte Revolution, von welcher wir bislang wissen, die große französische Revolution, die Vernunft noch als etwas Gegebenes, als etwas Dauerhaftes, ja sogar als eine Göttin. Die französische Revolution wollte noch den Lauf der Welt nach den bleibenden Gesetzen der Vernunft regeln. Jetzt handelt es sich darum, die Vernunft als etwas Gewordenes zu begreifen, als etwas, was eine Geschichte gehabt hat, eine zufällige und zufallsreiche Geschichte noch dazu. Eine wirkliche Geschichte der Vernunft müßte eine Geschichte des menschlichen Gehirns zur Voraussetzung haben. Diese Geschichte zu schreiben, geht aber wohl über Menschenkraft. Wir kennen die Geschichte der Dampfmaschinen und anderer künstlicher Werkzeuge recht genau, weil die verschiedenen seit hundert Jahren gebrauchten Modelle noch zur Vergleichung bereit liegen. Jede Verbesserung seit der ersten Dampfmaschine bis zu den heutigen ist übrigens mit Bewußtsein gemacht worden, und vielfach besitzen wir sogar darüber die Gedanken der Erfinder. Bewußt waren auch die Verbesserungen, welche an älteren Werkzeugen vorgenommen worden sind. Trotzdem, und trotzdem wir z. B. von der Schere oder dem Messer unzählige alte und neue Modelle besitzen, wäre eine lückenlose Geschichte des Messers oder der Schere schon nicht möglich.