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Gesetz der Bequemlichkeit

Sobald man aber fragt, warum die Sprache ihren Lautbestand verändert, nicht viel langsamer als einst die Mode ihre Formen, warum die Sprache sich nicht durch Jahrtausende damit begnüge, die alten Worte und die alten Formen zu konservieren und nur für neue Begriffe und neue Kategorien neue Worte und neue Formen zu bilden, — kurz: wenn man nach dem Grunde des mechanischen, des physiologischen Lautwandels fragt, so lautet die Antwort, dass die Bequemlichkeit (gelehrter ausgedrückt: die geringere Arbeitsleistung) das Sprachorgan dazu veranlasse, z. B. aus dem Althochdeutschen langsam das Neuhochdeutsche zu machen. Wo es sich dabei um Vereinfachung der Formen handelt, da liegt es auf der Hand, dass die Bequemlichkeit dem Gedächtnisse zugute kommt, also einem psychologischen Faktor, wie man so niedlich sagen könnte, wüßte man nicht, dass im Gedächtnis das ganze Rätsel der Psyche steckt. Selbst diese Bequemlichkeit des Gedächtnisses ist wiederum so bequem, sehr langsam zu arbeiten. Es gab eine Zeit, in welcher die ursprünglichen Zeitwörter in der Einzahl des Perfektums anders flektiert wurden als in der Mehrzahl. Diese Unbequemlichkeit für das Gedächtnis ist bis heute nicht vollständig abgeschafft. Im Mittelhochdeutschen sagte man "wir sturben, ich starb"; Luther noch sagte "wir bissen, ich beiß"; wir können heute noch sagen "wir wurden, ich ward".

Wo aber nicht eine formale Ausgleichung stattfindet, wo nicht das Gedächtnis durch Zusammenfließen verschiedenartiger Formen entlastet wird, wo bloß Laute verändert, Vokale assimiliert, harte Konsonantengruppen erweicht werden. da ist man geneigt, die Bequemlichkeit als etwas Mechanisches aufzufassen. Und dieser Glaube, dass nämlich die Lautveränderungen auf mechanischen Naturforderungen beruhen, hat ganz gewiß mit dazu beigetragen, dass überhaupt von Lautgesetzen gesprochen wird, und dass diesen natürlichen Gesetzen ausnahmslose Wirkung zugeschrieben wird. Man läßt die Lautgesetze, die man physiologisch nennt, von psychologischen Einflüssen kreuzen und besinnt sich nicht darauf, dass Sprache nicht ein Organismus sei, sondern Tätigkeit, dass Tätigkeit oder Arbeit so lange psychologischer Natur sei, als man den Begriff Psychologie in der Sprache fortdauern lassen wird. Es braucht nicht hinzugefügt zu werden, dass die Einwirkung der Bequemlichkeit auf die Arbeitsleistung erst recht psychologisch sein muß. Wenn sämtliche Bauern eines Dorfes den Weg z. B. zur nächsten Kirche oder zum nächsten Wirtshause am bequemsten da zu finden glauben, wo sie eine bestimmte Wiese kreuzen, so wird dieser nächste und bequemste Weg mit der Zeit nicht mehr ein gedachter sein, sondern es wird sich ein ganz mechanischer ausgetretener Pfad bilden, auf welchem kein Gras mehr wächst. Auf den Raum dieses Pfades wird der Begriff Wiese am Ende nicht mehr anwendbar sein. Wenn der Besitzer der Wiese sich gegen diese mechanische Veränderung nicht durch einen festen Zaun oder durch sonstige körperliche Gewalt zu schützen weiß, so wird unweigerlich die Veränderung stattfinden, es wird das Dorf im Kampf ums Dasein den kürzesten Weg durchsetzen. Ja sogar die Aufrichtung eines festen Zaunes, wird höchst wahrscheinlich auf die Dauer nichts hindern können. Man wird dann bildlich ganz hübsch von einem Naturgesetz sprechen können, welches den Weg vom Dorf zur Kirche oder zum Wirtshaus die "Wiese durchkreuzen ließ. Ja sogar höhere Abstraktionen, Rechte und Prozesse, werden auf dieses mechanische Wegbereiten zurückzuführen sein. Man wird sagen: aus der naturgesetzlichen Tatsache sei das rechtliche Institut einer Servitut entstanden. Und es ist nicht unmöglich, dass die Gerichte, wenn der nötige Zeitraum verstrichen ist, dem "Dorfe" das "Recht" zusprechen, die Wiese mechanisch zu kreuzen.

Wie steht es aber um das Mechanische des Vorgangs? Es gibt vor allem freilich kein aktives Naturgesetz, welches das Dorf auf den nächsten Weg trieb: es gibt ferner in der Wirklichkeit nichts, was nahe oder nächst war; es gibt kein Dorf, sondern nur Bauern; es gikt keinen Weg, weder im Sinne des materiellen Pfades, noch im Sinne einer Wegrichtung, es gibt nur einerseits fester gestampfte Lehmklumpen, anderseits die Tritte der schreitenden Bauern oder vielmehr den rammenden Fall der Bauernkörper. Nur dass jedesmal, wo der höchst individuelle Bauer sein individuelles Bein augenblicklich zu einem Schritte in einer bestimmten Richtung hebt, ein psychologischer Faktor mit tätig ist, der je nach Umständen Wille oder Gewohnheit heißt.