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Sprachverwandtschaft

Der Herkules ist in unserem Falle die legendäre indo-europäische Ursprache. Johannes Schmidt äußert seine Zweifel an den Ergebnissen des bisherigen Bemühens, diese Ursprache zu rekonstruieren. Aber er vergißt daran zu denken, dass jedem solchen Versuch eine Klarlegung des Begriffs der Sprachverwandtschaft vorausgehen müsse. Nun scheint mir, dass man die Tatsachen der Verwandtschaft von unserer Kenntnis dieser Tatsachen nicht genügend geschieden habe. Es kann wohl vorkommen, dass man weiß, der oder jener sei mit einem irgendwie verwandt, ohne den Stammbaum dieser Verwandtschaft zu kennen; aber abgesehen von unserem Wissen, der Sache nach, kann es keine derartige unbestimmte Verwandtschaft geben. In der Wirklichkeit ist entweder eine bestimmte Abstammung vorhanden oder es liegt gar keine Verwandtschaft vor. Und diese Frage, ob nämlich gewiß Verwandtschaft vorliege zwischen den einzelnen indoeuropäischen Sprachen, diese Frage wagt Johannes Schmidt gar nicht zu stellen, da er wie alle anderen von der unsterblichen Tat Bopps, das heißt von der Aufstellung des indoeuropäischen Sprachstammes ausgeht. Und doch findet sich bei Johannes Schmidt ein Satz, der — wenn man ihn immer im Auge behielte — jede Gewißheit über irgendwelche Verwandtschaft zweier indoeuropäischer Sprachen aufheben müßte. Es handelt sich um das Vorkommen der Lehnworte. Lehnworte sind bekanntlich solche Fremdworte, deren ferne Herkunft vom Sprachgefühl nicht mehr empfunden wird. Wir hören z. B. aus "Advokat" noch deutlich das lateinische Wort advocatus heraus; wir hören dasselbe advocatus aus seiner älteren ins Deutsche übergegangenen Form Vogt nicht mehr heraus. So mögen wir Advokat ein Fremdwort, Vogt ein Lehnwort nennen. Es ist selbstverständlich, dass eine noch so große Zahl von Lehnworten nichts für die Verwandtschaft der Völker und ihrer Sprache beweist. Nun sagt Johannes Schmidt, dass es "bis jetzt" noch unmöglich sei, "die ältesten vorhistorischen Entlehnungen zwischen zwei nahverwandten Sprachen von den urverwandten Worten scharf zu scheiden"; er fügt ganz richtig hinzu, dass man wohl unter gewissen Umständen zur Annahme einer Entlehnung hinneigen könne, dass aber der Beweis für die Urverwandtschaft niemals zu erbringen sei. Das "bis jetzt" halte ich bloß für eine stilistische Verzierung, da kaum anzunehmen sein dürfte, dass auf diesem Gebiete die Sicherheit wachsen wird. Aber der Satz ist in der Form, in der er uns entgegentritt, bezeichnend für Schmidts Abhängigkeit von der populären Lehre. Man sollte doch denken, dass die Urverwandtschaft zweier Sprachen fraglich werde, wenn jede Entsprechung zweier ähnlicher Worte ebenso gut Entlehnung wie Verwandtschaft sein könne; denn Verwandtschaft zweier Worte muß in Wirklichkeit eine bestimmte Verwandtschaft sein. Wenn man nun entlehnte und verwandte Worte in zwei Sprachen niemals mit Sicherheit unterscheiden kann (und das gilt durchaus für die vorhistorische Zeit), so hat es keinen Sinn, die beiden verglichenen Sprachen dennoch verwandt zu nennen. Das aber tut Johannes Schmidt, wenn er in einem Atem die Sprachen für verwandt erklärt, an der Verwandtschaft der einzelnen Worte aber zweifelt. Das heißt doch ganz gewiß die Sache auf den Kopf stellen und von einer Abstraktion anstatt von der Wirklichkeit ausgehen. Wenn man sagt, zwei Familien seien miteinander verwandt, so ist das doch immer nur ein kurzer Ausdruck für die Tatsache, dass zwischen den einzelnen Menschen der beiden Familien Blutsverwandtschaft bestehe, und auch die nicht allgemein, sondern höchst bestimmt. Nach dem Satze von Schmidt müßte man jedoch auch sagen können: man wisse nicht, ob die einzelnen Mitglieder zweier nahverwandter Familien miteinander verwandt wären. Es wäre vielleicht mehr als ein Scherz, wenn man die Beziehungen der Worte, welche durch Entlehnung zusammenhängen, eine Art von Verschwägerung nennen würde.

Die Chancen einer sicheren Aufstellung von Verwandtschaftsgraden liegen demnach so ungünstig darum, weil (geht man von einer Sprache aus) die Entlehnung eines Wortes aus einer anderen Sprache mitunter überzeugend nachgewiesen werden kann, die Verwandtschaft mit einem Worte der anderen Sprache jedoch eigentlich niemals. Genau genommen — und ich bitte auf diesen Punkt zu achten — ist der Fehler Schmidts, wenn er zu gleicher Zeit nahe Verwandtschaft der Sprachen voraussetzt und an der Verwandtschaft jedes einzelnen Wortpaares zweifelt, doch nur der Grundfehler der gesamten Sprachvergleichung. Es ist nicht anders: es wird regelmäßig die Verwandtschaft zweier Sprachen nach oberflächlicher Vergleichung angenommen, provisorisch, gewissermaßen vorwissenschaftlich; nachher wird diese Verwandtschaft durch wissenschaftliche Wortvergleichung erwiesen, aber diese Vergleichung hat immer schon die Verwandtschaft zur Voraussetzung. Wäre diese Voraussetzung nicht vorhanden, die die Wissenschaft seit hundert Jahren beherrscht, so dürfte man ohne besondere Nachweise in keinem einzigen Falle von Verwandtschaft reden. Es sind doch die Sprachen erst dann verwandt zu nennen, wenn die Hauptmasse ihrer Worte verwandt ist; die Sprachwissenschaft jedoch geht davon aus, dass die Abstraktionen, die Sprachen verwandt seien, vor den Worten, außer den Worten. Die Legende von der Abstammung der Völker bildet den Hintergrund.

Schmidt ist im einzelnen äußerst scharfsinnig. Er macht einmal (S. 35) die Bemerkung, dass die als solche noch nicht erkannten Lehnwörter wahrscheinlich häufiger versteckt sind in den entsprechenden Wörterverzeichnissen der nahverwandten Sprachen als in denen der entfernt verwandten; ich glaube aber, dass man deutlicher die Unsicherheit auf diesem Gebiete nicht verraten kann, als durch den Satz, hinter der Nähe der Verwandtschaft verberge sich eine Fülle von Lehnworten.

An einer anderen Stelle bemerkt Schmidt ausdrücklich, dass z. B. die graeco-italischen Sprachen nur gemeinsame Eigentümlichkeiten haben, dass aber dieser Kollektivbezeichnung ("graeco-italische Sprachen") keine nachweisbar historische Realität zukomme, dass die Existenz einer gemeinsamen Grundsprache nicht erwiesen sei. Auch bei dieser Frage scheint es mir deutlich, dass Schmidt in einem Falle besonders naher Verwandtschaft von der Art der Verwandtschaft keine Vorstellung habe und dennoch, auf bloße Ähnlichkeiten hin, weiter von Verwandtschaft darauf los rede. Auch ihm fällt es nicht ein, den Begriff der Sprachverwandtschaft erst einmal vorurteilslos zu untersuchen, bevor er ihn anwendet.