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Substanz

Substanz (lat. substantia, gebr. seit Quintilianus [Inst. or. 3, 6, 8], gr. ousia, hypostasis, to hypokeimenon) heißt das Selbständige, das Fürsichbestehende gegenüber dem Unselbständigen, Anhaftenden (den Eigenschaften oder Akzidenzen) oder das Beharrende gegenüber dem Wechselnden (den Zuständen). Der Substanzbegriff ist einer der schwierigsten und schwankendsten Grundbegriffe des Denkens. In der ältesten griechischen Philosophie spielt statt seiner der Begriff der hylê (des Stoffes) eine wichtige Rolle. Dieser fängt an sich in der Lehre des Herakleitos (um 500 v. Chr.) vom Fluß der Dinge zu verflüchtigen. Durch die Eleaten wird dagegen der Begriff des wahrhaft Seienden zuerst unabhängig von der Erfahrung logisch und im Gegensatz zum Begriffe des nur scheinbar Seienden geformt und damit der Substanzbegriff eingeleitet. Platon (427 bis 347) sucht darauf das Substantielle (ousia) in den allgemeinen Begriffen oder Ideen in Absonderung von der Sinnenwelt. Aristoteles (384-322), der die Idee in dem Stoffe, das Allgemeine im Einzelnen suchte, bringt es nicht zu einer festen abschließenden Definition der Substanz. Aristoteles nennt Substanz (ousia, to hypokeimenon) bald das Beharrende, den Träger der wechselnden Affektionen (symbebêkota) (Analyt. poster. I, 21 p. 83a 24 ff.), bald das Selbständige (Metaph. VI, 3 p. 1029a 8), bald die der Materie innewohnende Form (Metaph. IV, 8 p. 1017b 25), bald das Wesentliche (Metaph. VI, 3 p. 1029a 1), bald auch das Einzelding (Kategor. 5 p. 2a 18). Er unterscheidet endlich auch drei Substanzen, die Materie, die Gestalt und das Produkt beider (Metaph. VI, 3. p. 1029a 2). Im Mittelalter schloß man sich in der Bestimmung des Substanzbegriffes entweder an Platon (Idee) oder an Aristoteles (Form) an. Cartesius (1596-1650) definierte die Substanz als ein Ding, welches zu seiner Existenz keines anderen Dinges bedarf (per substantiam nihil aliud intelligere possumus, quam rem, quae ita existit, ut nulla alia re indigeat ad existendum), und nahm zwei Arten von Substanzen an, die unerschaffene, die allein dem Begriffe der Substanz genau entspricht, und die erschaffenen Substanzen, die nur der unerschaffenen zu ihrer Existenz bedürfen. Substanz im ersten Sinne ist nur Gott, das Wesen, das zu seiner Existenz durchaus keines anderen Wesens bedarf; Substanzen im zweiten Sinne sind die ausgedehnte und denkende Substanz, die zu ihrer Existenz nur der Mitwirkung Gottes bedürfen. Spinoza (1632-1677), der dem Begriff der Substanz strengere Einheit geben wollte, ließ nur eine unendliche, ewige und notwendige Substanz gelten, welche in sich sei und durch sich begriffen werde, nämlich Gott. Denken und Ausdehnung galten ihm nur als Attribute Gottes. Leibniz (1646-1716) bestimmte das Wesen der Substanz als tätige Kraft, als Vorstellung, und nahm eine unendliche Zahl von Substanzen (Monaden) an. Locke (1632-1704) hat zuerst in der Neuzeit den Substanzbegriff, wie er vom Altertum und Mittelalter her überliefert war, scharf kritisiert und gezeigt, er bezeichne nichts als den gänzlich unbekannten Träger gewisser Eigenschaften. Hume (1711-1776) löste dann den Substanzbegriff. ebenso wie den Kausalitätsbegriff völlig auf. Durch sinnliche Eindrücke werden nur Zustände und Möglichkeiten, nicht Substanzen wahrgenommen. Ebensowenig gewinnen wir die Substanz durch innere Erfahrung. Das unbekannte Etwas, an dem die Eigenschaften haften sollen, ist nur eine Erdichtung der Einbildungskraft. Die beharrliche Gleichheit der Attribute rechtfertigt nicht die Annahme eines beharrenden Trägers derselben. Die Substanz ist nichts weiter als das Zusammensein der Eigenschaften. Kant (1724-1804) bestimmt den Substanzbegriff als Kategorie der Relation in Korrelation mit dem Begriff der Akzidenzen. Die Substanz ist für ihn das Beharrliche, der Träger der wechselnden Akzidenzen. J. G. Fichte (1762-1814) leugnet die Realität der Substanz überhaupt, indem er behauptet, sie sei nur die Totalität der Glieder eines Verhältnisses. Während Schelling (1775-1854) auf Spinozas pantheistischen Standpunkt bezüglich der Substanz zurückkehrt, ist für Hegel (1770-1831) die Substanz oder das Absolute das Subjekt, welches in Wahrheit wirklich ist. Herbart (1776 bis 1841) sah wieder, wie Locke, in der Inhärenz der Eigenschaften ein Problem; aber ersuchte dies Problem positiv zu lösen; die Substanz ist ihm das unbekannte Eine, dessen Setzung die verschiedenen Setzungen der Merkmale repräsentiere; sie ist das vermißte Subjekt, welches unserer Kenntnis fehlt, in der Natur aber nicht fehlen kann. So verschwindet bei näherer Betrachtung der Begriff der Sache, und der der Substanz tritt an ihre Stelle. Ähnlich wie Leibniz nimmt er dann als letzte Substanzen eine unendliche Vielheit von Realen an. Schopenhauer (1788-1860) sieht in der Substanz nur eine Abstraktion der Materie, die jedoch zwecklos, ja fehlerhaft sei, weil dabei die heimliche Nebenabsicht unterlaufe, durch Erschleichung (subreptio) den Begriff der Seele als einer immateriellen Substanz zu gewinnen. Wundt (geb. 1832) sieht in der Substanz den Begriff eines vom Subjekte unabhängigen Gegenstandes, dessen sich die Naturwissenschaft, welche die Dinge mittelbar in Abstraktion vom Subjekte betrachtet, als Hilfsbegriffs bedient.

Der Begriff Substanz hat also bisher keine allgemein anerkannte Bestimmung gefunden, sondern man versteht darunter entweder den Stoff, oder das seiende Ding, oder die Kraft, oder die Form, oder das Absolute, oder das Sein der Natur, oder das Sein des Geistes, oder man leugnet ihre Existenz ganz ab usw. Trotzdem kann das Denken des Substanzbegriffs nur schwer entbehren und faßt ihn formal entweder als das Selbständige gegenüber dem Anhaftenden, oder als das Beharrliche gegenüber dem Wechselnden, also als den festen Ausgangspunkt in aller räumlichen Zerstreuung und in allem zeitlichen Wandel des Daseins. Der Mensch anthropomorphosiert, indem er begreift, und indem er sein ihm durch Erfahrung innerlich bekanntes eigenes Ich in die Welt hineinträgt, schafft er den Substanzbegriff, ohne den er nicht im Denken vorwärts kommt (vgl. Julius Schultz, die Bilder von der Materie 1905). Durch bloße Wahrnehmung ist die Substanz nicht aufzufinden, sie ist vielmehr eine Begriffsform, durch die das Sein gedacht, nicht angeschaut wird. Ob ihr metaphysisch etwas entspricht und was ihr metaphysisch entspricht, ob ein Materielles, oder ein Geistiges, oder ein Absolutes, oder ein uns völlig Unbekanntes, oder ein Nichts, ist die Grundfrage der Metaphysik und eines der schwersten Probleme (vgl. Metaphysik). Die Anhänger der Aktualitätstheorie glauben ohne die Substanz auskommen zu können. Vgl. Actualität.