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Sinn

Sinn bezeichnet allgemein 1. objektiv a) theoretisch den Inhalt eines Wortes, einer Rede, eines Kunstwerkes, einer Dichtung, so z.B. in dem Satze Schillers: „Was ist der langen Rede kurzer Sinn?“ (Piccol. 1, 2); b) praktisch die Bedeutung oder den Zweck einer Handlungsweise, z.B. „Ein hoher Sinn liegt oft im kind’schen Spiel“. 2. subjektiv a) theoretisch die Empfänglichkeit und das Verständnis eines Menschen für Wissenschaft und Kunst, Natur usw.; so redet man z.B. von einem Sinn für die Malerei, Musik usw.; b) praktisch die Gesinnung oder Stimmung des Menschen; so spricht man von einem heiteren, ernsten, leichten, bescheidenen Sinne. – Im besondern bezeichnet Sinn (sensus) nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch die Fähigkeit beseelter Wesen mit Hilfe bestimmter leiblicher Organe Reize von außen zu empfangen dieselben, durch die Nerven zu den Zentren fortzuleiten und zu bewußten Empfindungen und Gefühlen zu gestalten. Die sogenannten Sinne sind also die Hilfsmittel, durch die den Seelen Erfahrungsinhalte zugeführt werden. Der Mensch hat nach gewöhnlicher Annahme fünf Sinne: 1. den allgemeinen Sinn oder den Tastsinn; und die besonderen Sinne, nämlich: 2. das Gehör; 3. den Geruch; 4. den Geschmack; 5. das Gesicht. Durch diese Sinne empfängt er die Elemente der Erfahrungsinhalte, die Empfindungen, wie Wärme, Kälte, Schmerz, Ton, Licht usw. Dies geschieht, indem ein Gegenstand, ein Vorgang auf das Sinnesorgan einen Reiz ausübt, dieses den Reiz aufnimmt, die Nerven denselben fortpflanzen und der Reiz so fortgepflanzt im Nervenzentrum zu einem Bewußtseinsvorgang wird. Bei der Aufnahme des Reizes findet entweder keine Umgestaltung des Reizes statt, oder es vollzieht sich eine Transformation in den Endorganen der Nerven. Man unterscheidet daher (nach Wundt) die mechanischen Sinne, bei denen eine Umgestaltung nicht nachweisbar ist, nämlich den allgemeinen Sinn (Tastsinn) und das Gehör von den chemischen Sinnen, dem Geruch, dem Geschmack und dem Gesicht, bei denen eine solche Umgestaltung Platz greift.

Die Sinnesempfindungen unterscheiden sich erstens durch ihren Inhalt (Qualität). Dem allgemeinen Sinne oder dem Gefühle kommen vier Qualitätssysteme zu. Diese sind: 1. das System der Druck- oder Tastempfindungen, 2. das System der Kälte-, 3. das System der Wärme-, 4. das System der Schmerzempfindungen. Das Gehör besitzt der Qualität nach 1. Geräusch -, 2. Tonempfindungen. Der Geruch und der Geschmack schließen eine größere Anzahl der Qualität nach verschiedener Empfindungssysteme, deren Sonderung noch nicht genügend erfolgt ist, in sich ein. Die Empfindungen des Gesichts sind entweder farblose Empfindungen oder Farbenempfindungen. Die Verschiedenartigkeit der Qualität der Empfindungen der einzelnen Sinne erklärte man sich seit Joh. Müller aus ihrer „spezifischen Energie“, d.h. aus der Anlage, nur gewisse Reize aufzunehmen. Jeder Sinn führt hiernach gleichsam seine eigene Sprache, in welcher er auf die verschiedensten Reize antwortet, während ein und derselbe Anlaß in jedem Sinn eine andere Empfindung weckt. Lichtempfindungen liefert nur der Sehnerv, gleichgültig, ob er durch Licht, Stoß oder Elektrizität gereizt wird. Ein Schlag auf die Haut erzeugt Schmerz, auf das Auge Licht, auf das Ohr Geräusch. Ein elektrischer Strom wird von der Zunge als Geschmacksempfindung, vom Auge als Lichtreiz, vom Ohr als Schall wahrgenommen. Die Lehre von der spezifischen Energie der Sinne ist namentlich von Du Bois-Reymond und v. Helmholtz ausgebildet, aber von Wundt, vor allem im Hinblick auf die Tatsache der Stellvertretung nervöser Bahnen, bestritten worden, der ihr Vorhandensein leugnet oder ihre Ausbildung sich erst während des Lebens durch spezifische Reize erworben denkt. Herings Ansicht, daß eine spezifische Sinnesenergie zwar nicht ursprünglich gegeben, aber in der Stammesentwicklung erworben und vererbt ist, hat die Wahrscheinlichkeit für sich.

Die qualitativ bestimmte Sinnesempfindung tritt in verschiedener Stärke auf. Den Sinnesempfindungen kommt also zweitens neben der Qualität eine Intensität zu. Die Intensität der einzelnen Empfindung ist unmittelbar von der Art der Reize und den Sinnesorganen abhängig (vgl. Webersches Gesetz). Der Wechsel in der Intensität ist entweder eine Zunahme oder Abnahme der Stärke der Empfindung, so daß die Intensitätsgrade jeder Empfindung geradlinige Kontinuen von einer Dimension bilden, deren Endpunkte die Minimal- und Maximalempfindungen sind. Außer durch ihre Qualität und Intensität unterscheiden sich die Sinnesempfindungen noch durch ihren Gefühlston. Der Gefühlston ist von den äußeren Reizen weniger abhängig und steht zu dem jedesmaligen Gesamtzustande des Bewußtseins in engerer Beziehung.

Uns bekannte Organe für die sinnliche Empfindung haben außer dem Menschen nur die Tiere, und zwar je höher sie stehen, desto feinere. Der Mensch überragt alle Tiere auch in dieser Hinsicht, weil alle seine Sinne große Empfänglichkeit zeigen und weil kein einzelner Sinn dergestalt über die anderen herrscht, daß Umfang und Richtung menschlicher Erfahrung und die damit zusammenhängende Bildung des Gedankenkreises einseitig bestimmt würde. Aristoteles (384-322) setzte des wegen auch die Sinne mit den Elementen in Parallele, das Gesicht mit dem Wasser, das Gehör mit der Luft, den Geruch mit dem Feuer, das Gefühl mit der Erde. Ähnlich lehrte Schopenhauer (1788-1860), der Sinn für das Feste (Erde) sei das Gefühl, für das Flüssige (Wasser) der Geschmack, für das Dampfförmige (Dunst) der Geruch, für das permanent Elastische (Luft) das Gehör, für das Imponderabile (Feuer, Luft) das Gesicht.

Mit den sinnlichen Empfindungen verbinden sich die Vorstellungen der Gestalt, Größe, Lage, Entfernung, Folge, der Verknüpfung zur Einheit (genannt „Ding“), der Identität den Dinges und seiner Veränderungen. Der naive Beobachter glaubt, daß diese Vorstellungen unmittelbar in der einfachen sinnlichen Empfindung liegen. Die Psychologie dagegen zeigt, wie erst aus einer komplizierten psychophysischen Tätigkeit diese Elemente der Vorstellungen entstehen, und widerlegt so den Materialismus. Zur Erklärung jener Vorstellungsformen nahm Aristoteles (384-322) einen besonderen Sinn, den Gemeinsinn (koinê aisthêsis sensus communis, s. Gemeingefühl) an, der dasjenige wahrnehme, was, wie z.B. der Raum, den übrigen Sinnen gemein sei. Kant (1724-1804) reduzierte die Formen der Sinnlichkeit auf Raum und Zeit. Die moderne Psychologie dagegen weist nach, daß ohne Assoziation, und Reproduktion der einzelnen sinnlichen Reize gar keine Wahrnehmung zustande kommen könnte.

Der Anteil der einzelnen Sinne an unserer Erkenntnis und der Wert ihrer Tätigkeit für das menschliche Leben ist verschieden. Der Geruch und Geschmack dienen der Auswahl bei unserer Ernährung, Gesicht und Tastsinn bringen uns das Räumliche zur Anschauung, das Gehör gibt uns die Grundlage für die Vorstellung der Zeit. Vor allem ausgezeichnet durch Klarheit, Deutlichkeit, Reichtum und Weite der Wahrnehmungen ist das Gesicht; von ihm hat daher der Sprachgebrauch die Bilder für Vollkommenheit der Erkenntnis entlehnt (Evidenz, Anschaulichkeit, Einsicht), und auf optische Wahrnehmung wird die der anderen Sinne gern zurückgeführt. Das Gesicht allein verbindet uns mit dem gesamten Kosmos, während das Gehör uns unmittelbar nur mit der nächsten irdischen Umgebung verbinden kann, oder mit Hilfe von Instrumenten (Telephon usw.) auch mit weiteren Fernen, doch nicht über die Erde hinausführt. Alle einzelnen Wahrnehmungen zusammen ergeben die sinnliche Anschauung oder Erfahrung, welche die Voraussetzung aller höheren seelischen Tätigkeit ist. In den ersten neun Lebensjahren sind die Sinne am empfänglichsten. Der Mensch macht in ihnen die meisten sinnlichen Erfahrungen; später herrscht die apperzeptive Verbindung der Wissenselemente vor. Vgl. Bewußtsein, Ich, Apperzeption, Wahrnehmung. – George, die fünf Sinne. 1846. Preyer, die fünf Sinne des Menschen. Leipzig 1870. Wundt, Grundriß der Psych. 7. Aufl. 1905. S. 45-106 § 6,7.