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Zur Naturgeschichte von Pflicht und Recht

112.

Zur Naturgeschichte von Pflicht und Recht. — Unsere Pflichten — das sind die Rechte Anderer auf uns. Wodurch haben sie diese erworben? Dadurch, dass sie uns für vertrags- und vergeltungsfähig nahmen, für gleich und ähnlich mit sich ansetzten, dass sie uns daraufhin Etwas anvertrauten, uns erzogen, zurechtwiesen, unterstützten. Wir erfüllen unsre Pflicht — das heißt: wir rechtfertigen jene Vorstellung von unserer Macht, auf welche hin uns Alles erwiesen wurde, wir geben zurück, in dem Maße, als man uns gab. So ist es unser Stolz, der die Pflicht zu tun gebeut, — wir wollen unsre Selbstherrlichkeit wiederherstellen, wenn wir dem, was Andre für uns taten, Etwas entgegenstellen, das wir für sie tun, — denn Jene haben damit in die Sphäre unserer Macht eingegriffen und würden dauernd ihre Hand in ihr haben, wenn wir nicht mit der „Pflicht“ eine Wiedervergeltung übten, das heißt in ihre Macht eingriffen. Nur auf Das, was in unsrer Macht steht, können sich die Rechte Anderer beziehen; es wäre unvernünftig, wenn sie Etwas von uns wollten, das uns selber nicht gehört. Genauer muss man sagen: nur auf Das, was sie meinen, dass es in unserer Macht steht, voraussetzend, dass es das Selbe ist, von dem wir meinen, es stehe in unserer Macht. Es könnte leicht auf beiden Seiten der gleiche Irrtum sein: das Gefühl der Pflicht hängt daran, dass wir in Bezug auf den Umkreis unserer Macht den selben Glauben haben, wie die Anderen: nämlich dass wir bestimmte Dinge versprechen, uns zu ihnen verpflichten können („Freiheit des Willens“). — Meine Rechte: das ist jener Teil meiner Macht, den mir die Anderen nicht nur zugestanden haben, sondern in welchem sie mich erhalten wollen. Wie kommen diese Anderen dazu? Einmal: durch ihre Klugheit und Furcht und Vorsicht: sei es, dass sie etwas Ähnliches von uns zurückerwarten (Schutz ihrer Rechte), dass sie einen Kampf mit uns für gefährlich oder unzweckmäßig halten, dass sie in jeder Verringerung unserer Kraft einen Nachteil für sich erblicken, weil wir dann zum Bündnis mit ihnen im Gegensatz zu einer feindseligen dritten Macht ungeeignet werden. Sodann: durch Schenkung und Abtretung. In diesem Falle haben die Anderen Macht genug und übergenug, um davon abgeben zu können und das abgegebene Stück Dem, welchem sie es schenkten, zu verbürgen: wobei ein geringes Machtgefühl bei Dem, der sich beschenken lässt, vorausgesetzt wird. So entstehen Rechte: anerkannte und gewährleistete Machtgrade. Verschieben sich die Machtverhältnisse wesentlich, so vergehen Rechte und es bilden sich neue, — dies zeigt das Völkerrecht in seinem fortwährenden Vergehen und Entstehen. Nimmt unsere Macht wesentlich ab, so verändert sich das Gefühl Derer, welche bisher unser Recht gewährleisteten: sie ermessen, ob sie uns wieder in den alten Vollbesitz bringen können, — fühlen sie sich hierzu außer Stande, so leugnen sie von da an unsere „Rechte“. Ebenso, wenn unsere Macht erheblich zunimmt, verändert sich das Gefühl Derer, welche sie bisher anerkannten und deren Anerkennung wir nun nicht mehr brauchen: sie versuchen wohl, dieselbe auf das frühere Maß herabzudrücken, sie werden eingreifen wollen und sich auf ihre „Pflicht“ dabei berufen, — aber dies ist nur ein unnützes Wortemachen. Wo Recht herrscht, da wird ein Zustand und Grad von Macht aufrecht erhalten, eine Verminderung und Vermehrung abgewehrt. Das Recht Anderer ist die Konzession unseres Gefühls von Macht an das Gefühl von Macht bei diesen Anderen. Wenn sich unsere Macht tief erschüttert und gebrochen zeigt, so hören unsere Rechte auf: dagegen hören, wenn wir sehr viel mächtiger geworden sind, die Rechte Anderer für uns auf, wie wir sie bis jetzt ihnen zugestanden. — Der „billige Mensch“ bedarf fortwährend des feinen Taktes einer Wage: für die Macht- und Rechtsgrade, welche, bei der vergänglichen Art der menschlichen Dinge, immer nur eine kurze Zeit im Gleichgewichte schweben werden, zumeist aber sinken oder steigen: — billig sein ist folglich schwer und erfordert viel Übung, viel guten Willen und sehr viel sehr guten Geist. —