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Hypothese einer Wirklichkeitswelt

Der Frechheit dieser Hypothese, die allen logischen Anforderungen widerspricht, indem sie also Induktion aus einem einzigen Falle ist, steht freilich eine ganz merkwürdige Anwendbarkeit dieser Hypothese gegenüber. Von der Wiege bis zum Grabe, in jedem Augenblicke des Wirkens oder des Lebens benimmt sich mein Ich, als ob die Hypothese einer Wirklichkeitswelt eine bewiesene Tatsache wäre. Und alle die unzähligen Handlungen meines Ich, vom Atemholen und Essen, bis zu einer Reise nach Afrika und dem Studium der Spektralanalyse, haben noch niemals den geringsten Verdacht gegen die Richtigkeit dieser umfassendsten Hypothese in mir aufsteigen lassen. Ja noch mehr. Ich bin mir eines Gedächtnisses bewußt, d. h. der Nachwirkung einer Vorstellung über die Zeit hinaus, wo die Wirklichkeitswelt mein Ich in irgend einem Punkte bestimmte. Die freche Hypothese einer Wirklichkeitswelt wird überraschend bestätigt durch die bloße Möglichkeit dessen, was wir unser Gedächtnis nennen. Es scheint wirklich etwas da zu sein, weil es dann noch da ist, wenn wir es nicht mehr empfinden. Und weiter, durch Sprache und Schrift ist uns ein tausendjähriges Gedächtnis der Menschheit überliefert worden und in den unzähligen Empfindungen dieser tausendjährigen Gedächtnisse unzähliger Organismen, die wir uns als unseresgleichen vorstellen, widerspricht nichts der vorläufigen Annahme einer Wirklichkeitswelt.

So werden wir nicht übermütig sein. Wir werden eine so bequeme Hypothese nicht ablehnen, weil sie unerwiesen ist. Wir werden so etwas wie eine Wirklichkeitswelt weiter glauben, wir werden dabei aber die verlegene Anmerkung machen ("Anmerkung" in der alten oder der neuen Wortbedeutung), wir werden die Beobachtung merken, daß es schon wieder unser Gedächtnis und das Gedächtnis der Menschheit ist, also nur unsere Sprache, was in uns den Schein einer Wirklichkeitswelt befestigt, und daß es darum mehr als verwegen wäre, aus dieser selben Erscheinung, welche uns knapp das Dasein einer Welt ahnen läßt, auch noch das Wesen dieser AVeit erkennen zu wollen.

Ebensogut wie ich dieses urälteste felsenfeste Vertrauen auf eine Wirklichkeitswelt die frechste Hypothese der Menschheit genannt habe, hätte ich es auch die urälteste und kindlichste Religion der Menschheit nennen können. Es sind ja Religionen immer und überall kühne Hypothesen. Ganz gewiß ist für das Tier das Vertrauen auf die Existenz der übrigen Natur, ganz gewiß ist für den Hund das Vertrauen auf die Existenz der Menschenwelt ein Glaube, ein zweifelloser Glaube, soweit man tierisches Seelenleben mit menschlichen Worten bezeichnen kann. Alle anderen Glaubenssätze werden notwendig von der fortschreitenden Wissenschaft zerstört; denn darin eben besteht ja die Wissenschaft, daß sie alte Beobachtungen mit neuen verbindet, und daß sie der Religion raubt, was erst einmal beobachtet worden ist. Der Religion bleibt nichts erhalten, als was sich der Beobachtung entzieht. Denken wir uns also die menschliche Wissenschaft, bis an ihre äußersten Grenzen ausgedehnt, so wird sie den Glauben aus allen seinen Positionen hinausgedrängt haben, so wie sie bereits im unendlichen Weltenraum keinen Platz mehr gelassen hat, der eine Wohnung der Götter sein könnte. Aus allen diesen Positionen muß der Glaube verschwinden, nur nicht aus der einen: dem Verlaß auf eine Wirklichkeitswelt. Über unsere Welt der Erscheinungen kann die Beobachtung nicht hinausdringen, vor der Wirklichkeit muß die Erkenntnis Halt machen und ewig die Wirklichkeit dem Glauben überlassen. Über die Welt der Erscheinungen hinaus kann die menschliche Sprache nicht dringen; an die Wirklichkeitswelt wird die vollendete Menschen Wissenschaft einfach glauben müssen, wie das stumme Tier wohl an die Natur glaubt, wie der bellende Hund fromm auf die Existenz seines Herrn vertraut.