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Verhalten der Deutschen zur Moral

207.

Verhalten der Deutschen zur Moral. — Ein Deutscher ist großer Dinge fähig, aber es ist unwahrscheinlich, dass er sie tut: denn er gehorcht, wo er kann, wie dies einem an sich trägen Geiste wohltut. Wird er in die Not gebracht, allein zu stehen und seine Trägheit abzuwerfen, ist es ihm nicht mehr möglich, als Ziffer in einer Summe unterzuducken (in dieser Eigenschaft ist er bei Weitem nicht so viel wert wie ein Franzose oder Engländer) — so entdeckt er seine Kräfte: dann wird er gefährlich, böse, tief, verwegen, und bringt den Schatz von schlafender Energie an’s Licht, den er in sich trägt und an den sonst Niemand (und er selber nicht) glaubte. Wenn ein Deutscher sich in solchem Falle selbst gehorcht — es ist die große Ausnahme —, so geschieht es mit der gleichen Schwerfälligkeit, Unerbittlichkeit und Dauer, mit der er sonst seinem Fürsten, seinen amtlichen Obliegenheiten gehorcht: sodass er, wie gesagt, dann großen Dingen gewachsen ist, die zu dem „Schwachen Charakter“, den er bei sich voraussetzt, in gar keinem Verhältnis stehen. Für gewöhnlich aber fürchtet er sich, von sich allein abzuhängen, zu improvisieren: deshalb verbraucht Deutschland so viel Beamte, so viel Tinte. — Der Leichtsinn ist ihm fremd, für ihn ist er zu ängstlich; aber in ganz neuen Lagen, die ihn aus der Schläfrigkeit herausziehen, ist er beinahe leichtsinnig; er genießt dann die Seltenheit der neuen Lage wie einen Rausch, und er versteht sich auf den Rausch! So ist der Deutsche jetzt in der Politik beinahe leichtsinnig: hat er das Vorurteil der Gründlichkeit und des Ernstes auch hier für sich und benutzt er es im Verkehr mit den anderen politischen Mächten reichlich, so ist er doch insgeheim voller Übermut, einmal schwärmen und launenhaft und neuerungssüchtig sein zu dürfen und mit Personen, Parteien, Hoffnungen wie mit Masken zu wechseln. — Die deutschen Gelehrten, welche bisher das Ansehen hatten, die Deutschesten unter den Deutschen zu sein, waren und sind vielleicht noch so gut wie die deutschen Soldaten, wegen ihres tiefen, fast kindlichen Hanges zum Gehorchen in allen äußeren Dingen und der Nötigung, in der Wissenschaft viel allein zu stehen und Viel zu verantworten; wenn sie ihre stolze, schlichte und geduldige Art und ihre Freiheit von politischer Narrheit zu sichern wissen, in Zeiten, wo der Wind anders bläst, so steht noch Großes von ihnen zu erwarten: so wie sie sind (oder waren), sind sie der embryonische Zustand von etwas Höherem. — Der Vorteil und der Nachteil der Deutschen, und selbst ihrer Gelehrten, war bisher, dass sie dem Aberglauben und der Lust, zu glauben, näher standen, als andere Völker; ihre Laster sind, nach wie vor, der Trunk und der Hang zum Selbstmord (dieser ein Zeichen von Schwerfälligkeit des Geistes, der schnell dazu gebracht werden kann, die Zügel wegzuwerfen); ihre Gefahr liegt in Allem, was die Verstandeskräfte bindet und die Affekte entfesselt (wie zum Beispiel der übermäßige Gebrauch der Musik und der geistigen Getränke): denn der deutsche Affekt ist gegen den eigenen Nutzen gerichtet und selbstzerstörerisch wie der des Trunkenboldes. Die Begeisterung selber ist in Deutschland weniger wert, als anderwärts, denn sie ist unfruchtbar. Wenn je ein Deutscher etwas Großes tat, so geschah es in der Not, im Zustande der Tapferkeit, der zusammengebissenen Zähne, der gespanntesten Besonnenheit und oft der Großmut. — Der Umgang mit ihnen wäre wohl anzuraten, — denn fast jeder Deutsche hat Etwas zu geben, wenn man versteht, ihn dahin zu bringen, dass er es findet, wiederfindet (er ist unordentlich in sich). — — Wenn nun ein Volk dieser Art sich mit Moral abgibt: welche Moral wird es sein, die gerade ihm genugtut? Sicherlich wird es zuerst wollen, dass sein herzlicher Hang zum Gehorsam in ihr idealisiert erscheine. „Der Mensch muss Etwas haben, dem er unbedingt gehorchen kann“ — das ist eine deutsche Empfindung, eine deutsche Folgerichtigkeit: man begegnet ihr auf dem Grunde aller deutschen Morallehren. Wie anders ist der Eindruck, wenn man sich vor die gesamte antike Moral stellt! Alle diese griechischen Denker, so vielartig ihr Bild uns entgegenkommt, scheinen als Moralisten dem Turnmeister zu gleichen, der einem Jünglinge zuspricht „Komm! Folge mir! Ergieb dich meiner Zucht! So wirst du es vielleicht so hoch bringen, vor allen Hellenen einen Preis davonzutragen“. Persönliche Auszeichnung, — das ist die antike Tugend. Sich unterwerfen, folgen, öffentlich oder in der Verborgenheit, — das ist deutsche Tugend. Lange vor Kant und seinem kategorischen Imperativ hatte Luther aus der selben Empfindung gesagt: es müsse ein Wesen geben, dem der Mensch unbedingt vertrauen könne, — es war sein Gottesbeweis, er wollte, gröber und volkstümlicher als Kant, dass man nicht einem Begriff, sondern einer Person unbedingt gehorche und schließlich hat auch Kant seinen Umweg um die Moral nur deshalb genommen, um zum Gehorsam gegen die Person zu gelangen: das ist eben der Kultus des Deutschen, je weniger ihm gerade vom Kultus in der Religion übrig geblieben ist. Griechen und Römer empfanden anders und würden über ein solches „es muss ein Wesen geben“ — gespottet haben: es gehörte zu ihrer südländischen Freiheit des Gefühls, sich des „unbedingten Vertrauens“ zu erwehren und im letzten Verschluss des Herzens eine kleine Skepsis gegen Alles und Jedes, sei es Gott oder Mensch oder Begriff, zurückzubehalten. Gar der antike Philosoph! Nil admirari — in diesem Satze sieht er die Philosophie. Und ein Deutscher, nämlich Schopenhauer, geht so weit im Gegenteil zu sagen: admirari id est philosophari. — Wie aber nun, wenn der Deutsche einmal, wie es vorkommt, in den Zustand gerät, wo er großer Dinge fähig ist? Wenn die Stunde der Ausnahme, die Stunde des Ungehorsams kommt? — Ich glaube nicht, dass Schopenhauer mit Recht sagt, es sei der einzige Vorzug der Deutschen vor anderen Völkern, dass es unter ihnen mehr Atheisten gebe, als anderwärts, — aber Das weiß ich: wenn der Deutsche in den Zustand gerät, wo er großer Dinge fähig ist, so erhebt er sich allemal über die Moral! Und wie sollte er nicht? Jetzt muss er etwas Neues tun, nämlich befehlen — sich oder Anderen! Das Befehlen hat ihn aber seine deutsche Moral nicht gelehrt! Das Befehlen ist in ihr vergessen!