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Unser Nebeneinander

369.

Unser Nebeneinander. — Müssen wir es uns nicht eingestehen, wir Künstler, dass es eine unheimliche Verschiedenheit in uns gibt, dass unser Geschmack und andrerseits unsre schöpferische Kraft auf eine wunderliche Weise für sich stehen, für sich stehen bleiben und ein Wachstum für sich haben, — ich will sagen ganz verschiedne Grade und tempi von Alt, Jung, Reif, Mürbe, Faul? So dass zum Beispiel ein Musiker zeitlebens Dinge schaffen könnte, die dem, was sein verwöhntes Zuhörer-Ohr, Zuhörer-Herz schätzt, Schmeckt, vorzieht, widersprechen: — er brauchte noch nicht einmal um diesen Widerspruch zu wissen! Man kann, wie eine fast peinlich-regelmäßige Erfahrung zeigt, leicht mit seinem Geschmack über den Geschmack seiner Kraft hinauswachsen, selbst ohne dass letztere dadurch gelähmt und am Hervorbringen gehindert würde; es kann aber auch etwas Umgekehrtes geschehn, — und dies gerade ist es, worauf ich die Aufmerksamkeit der Künstler lenken möchte. Ein Beständig-Schaffender, eine „Mutter“ von Mensch, im großen Sinne des Wortes, ein Solcher, der von Nichts als von Schwangerschaften und Kindsbetten seines Geistes mehr weiß und hört, der gar keine Zeit hat, sich und sein Werk zu bedenken, zu vergleichen, der auch nicht mehr Willens ist, seinen Geschmack noch zu üben, und ihn einfach vergisst, nämlich stehen, liegen oder fallen lässt, — vielleicht bringt ein Solcher endlich Werke hervor, denen er mit seinem Urteile längst nicht mehr gewachsen ist: so dass er über sie und sich Dummheiten sagt, — sagt und denkt. Dies scheint mir bei fruchtbaren Künstlern beinahe das normale Verhältnis, — Niemand kennt ein Kind schlechter als seine Eltern — und es gilt sogar, um ein ungeheueres Beispiel zu nehmen, in Bezug auf die ganze griechische Dichter- und Künstler-Welt: sie hat niemals „gewusst“, was sie getan hat ...