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Wortrealismus

Der mittelalterliche, scholastische Realismus, den ich zur Unterscheidung jedesmal Wortrealismus nenne, lehrt, dass die Universalien oder Begriffe irgend etwas Wirkliches seien, dass z. B. den aufwärts verallgemeinerten Begriffen Schimmel, Pferd, Vierfüßler, Tier, Organismus, Ding in der Wirklichkeitswelt etwas entspreche, was kein Individuum und doch ein Schimmel, ein Pferd usw. wirklich und wirksam, dinglich sei. Der moderne Realismus lehrt jedem Idealismus gegenüber, dass nur dasjenige wirklich sei, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können, dass alle anderen, höheren Begriffe nur Abstraktionen seien, nur in unserem Seelenleben vorhanden, er lehrt den Primat des Materiellen. Dieser moderne Kealismus kommt also dem mittelalterlichen Nominalismus sehr nahe und scheint darum dem scholastischen Wortrealismus entgegengesetzt zu sein. Die Sprachkritik kann sich in vielen Fällen damit begnügen, den alten und den neuen Realismus als Gegensätze aufzufassen. Doch ein schärferes Zusehen kann uns lehren, wie fließend und spielend so entgegengesetzte Begriffe ineinander übergehen.

Als Vorbereitung zu dieser schärferen Betrachtung wollen wir einmal zusehen, wie sich unser neuer Realismus oder Nominalismus ungefähr zu der eben angeführten Skala von Begriffen stellt. Den Begriff Ding wird er leicht preisgeben als eine fast inhaltlose Abstraktion. Die weiteren Begriffe, vom Organismus herab bis zum Pferd, wird er doch nicht so ganz als flatus vocis, als bloße Lufterschütterungen ansehen wollen, wird ihnen zwar nicht gerade die Wirksamkeit platonischer Ideen, aber doch formenbildende Kräfte zuschreiben, das heißt nicht dem Worte oder Begriffe, sondern einem hinter diesem steckenden Etwas, was entweder im Sinne Goethes die Regelmäßigkeit in der Natur oder im Sinne Darwins die Erblichkeit in der Natur als Folge hat. Derselbe Kompromiß wird für den Begriff Schimmel geschlossen, von der Umgangssprache von jeher, weil diese immer darwinistisch war und den strengen Unterschied zwischen Spezies und Varietät nicht kannte, neuerdings auch von den Darwinisten. Aber drüben das Individuum Schimmel, das von seinem Herrn "Hans gerufen wird, hat zugleich einen Namen und eine Realität. Unser moderner Realismus weiß noch nicht, dass es immer noch scholastischer Wortrealismus ist, auch nur das Individuum, das doch nur ein Strombett ist für in der Zeit und im Raum abfließende Molekularbewegungen, ein Reales zu nennen. Kurz vor seinem Tode hat Virchow, allerdings nur in Sorge um seine geliebte Zellularpathologie, selbst den Begriff des Individuums nominalistisch kritisiert und. Leben, Seele und was drum und dran hängt einzig und allein seinen lieben Zellen zugesprochen, die sich als die unter das Mikroskop gebrachten Leibnizschen Monaden entpuppten. Der Nominalismus Virchows tritt also der Welt entgegen und kritisiert sie von Gott bis herunter zur Zelle; vor der Zelle jedoch macht er halt und bekehrt sich ihr gegenüber zum Wortrealismus.

Unsere Erkenntnistheorie muß noch einen kleinen Schritt weiter gehen und fragen, wo denn der Realismus der Zellen anfange, die wir mit bewaffneten oder unbewaffneten Sinnen wahrnehmen. Ob außer uns oder in uns. Sind die Zellen wirklich Individuen und zwar Individuen außer uns, so hat der Realismus etwas Festes, woran er sich in der Physiologie halten kann, wie er in den Molekülen etwas Festes zu haben glaubt, woran er sich in der unorganischen Welt hält. Doch in der unorganischen Welt bereits zwingt ihn die Schwierigkeit der Naturerklärung, die immer noch körperlichen Moleküle in die idealen Kraftzentren der Atome aufzulösen und so die materialistische Welterklärung in einen energetischen Idealismus hinüberzuleiten. Dieselben Kraftzentren nimmt die Wissenschaft natürlich auch in der organischen Zelle an, weil sie auch im lebenden Körper noch niemals andere Atome als die der unorganischen Elemente nachgewiesen hat; das Denken kann dabei nicht stehen bleiben, es muß hinter der Zellseele eine Protoplasmaseele, hinter der Protoplasmaseele eine Unzahl von Atomseelen suchen, und weil zu den unorganischen Kräften noch diejenige Kraft kommt, welche so oder so die Erscheinungen des Lebens verursacht, wird die Physiologie des modernen Realismus zu einem energetischen Idealismus zweiter Potenz.