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Kreislauf von Wort und Gesetz

Besteht der Unterschied zwischen Abstraktion und Induktion aber nur im Grade der Wahrscheinlichkeit oder vielmehr in unserer festeren oder schwächeren Erwartung eines künftigen Ereignisses, so gehört die ganze Theorie der Induktion in das Gebiet der Psychologie, womit freilich nicht viel gewonnen wäre. Hier will ich nur feststellen, dass der Sprachgebrauch, dass unsere subjektive Erwartung nicht immer von der Mathematik abhängig ist. Auch nicht von mathematisch gefundenen Gesetzen. Die absolut sichere Erwartung eines regelmäßigen Tages- und Jahreswechsels bestand bei der Menschheit unendlich lange, noch bevor die gegenwärtige Astronomie begründet war. Wir bleiben also dabei, dass Induktion und Abstraktion im wesentlichen dieselbe Geistestätigkeit ist, dass wir mit diesen beiden Begriffen eigentlich unklar und durcheinander den Weg oder Rückweg von einem Wort zu etwas in ihm Enthaltenen ausdrücken, also eine Teilvorstellung dessen, was wir zusammen Gedankenassoziation nennen. Nicht einmal mit den Bildern Aufstieg und Abstieg werden Induktion und Abstraktion genau auseinandergehalten. Wenn wir uns einbilden, einen Begriff der reinen Abstraktion zu verdanken, so wird es doch bei der sogenannten Schlußfolgerung aus ihm wieder einen Unterschied machen, ob wir seine Merkmale oder seine Teile auseinanderlegen, ob wir aus seinem Inhalt oder seinem Umfang Schlüsse ziehen. Bei Schlüssen aus dem Inhalt werden wir mehr das Bild vom Abstieg, die Abstraktion, vor Augen haben. Bei Schlüssen aus dem Umfang mehr das Bild vom Aufstieg, die Induktion. Beide Geistestätigkeiten aber, auf welche die Menschen um so stolzer sind, je gelehrter sie sind, laufen für uns zusammen zu der einen bescheidenen Tätigkeit der langsamen Wortbildung, welche die Menschheit allerdings die wachsende Summe ihrer Erfahrungen bequemer merken ließ, welche jedoch wie ein verräterischer Führer die Menschheit auf ihrem Marsche zwar ermüdet, aber dem Ziel nicht näher bringt, nicht der Erkenntnis der Wirklichkeitswelt. Ein besonderer Spott dieses Fortschreitens zu immer neuen Gesetzen oder Worten ist es, dass keine Sammlung von Einzelbeobachtungen, dass keine Induktion jemals zu dem Neuen, zu einem neuen Gesetze oder Worte führen konnte, wenn die leitenden Ideen, wenn die vorgefaßten Maximen nicht längst schon auf das neue Gesetz oder Wort hingewiesen hatten. Und diese leitenden Ideen mußten doch, um überhaupt gedacht zu werden, schon irgendwo in dem bisherigen Wortschatz, in der alten Sprache versteckt gewesen sein, bis irgend eine armselige kleine neue Beobachtung die Aufmerksamkeit auf das Versteck lenkte. Wessen Aufmerksamkeit so rege, wessen Energie dazu stark genug ist, um die Spur zu verfolgen, der wird ein großer Entdecker, der wird ein Führer der Menschheit. In seinem Entdeckertaumel glaubt er, und die Menschheit mit ihm, auf dem Gipfel angekommen zu sein; aber Schwindel erregend sinkt der scheinbare Gipfel mit seinem Geschlechte herab zum gemeinen Hohn, und Schwindel erregend türmt die ewige Zeit neue Gipfel für neue Entdecker, für neue Führer der Menschheit. Wie eine Herde vegetiert sie weiter, ihre Führer aber sind es, die in Todesschweiß und Unsterblichkeitssehnsucht die Sisyphusarbeit verrichten, den Stein emporzuwälzen, der ewig hinabrollt. Ewig wandelt sich die Ahnung zur Gewißheit von Gesetzen, die sich wieder als leere Worte enthüllen. Und ewig suchen die besten der Menschen unter den leer gewordenen Worten, die einst beglückende Gesetze waren, nach Ahnungen neuer beglückender Gesetze. So ist der geistige Kreislauf, der dem Kreislauf auf der Erdrinde entspricht. Es vernichtet ewig das Tier die Pflanzen und schenkt ihnen dafür seine Exkremente zu neuem Wachstum.