Laura Bridgam
Laura Bridgman, die arme dreisinnige Amerikanerin, wird etwa zwölf Jahre alt gewesen sein, als sie erfuhr, daß sie sich von anderen Kindern unterschied und daß sie nur drei Sinne besaß, nämlich den Tastsinn und außerdem ein bißchen Geruch und Geschmack. Sie hatte damals schon das Wort denken (think) halb als Verbum, halb als Substantiv kennen gelernt und gebrauchte es auffallend häufig für die Anstrengung des Denkens, die sie in ihrem Kopfe lokalisiert empfand. So sagte sie z. B.: "Mein Denken ist müde." Als sie nun erfuhr, sie habe nur drei Sinne, rief sie: "Ich habe vier Sinne: Denken und Nase und Mund und Finger (think and nose and mouth and fingers)." Ich will kein besonderes Gewicht darauf legen, daß sie für ihre drei Sinne die Sinnesorgane oder doch die gröbsten Sinnesorgane nannte und das Denken abstrakt bezeichnete; ich habe schon bemerkt, daß think ihr etwa ein Substantiv war und daß sie den Kopf gar wohl als das Sinneswerkzeug der Denkarbeit betrachten konnte, wie die Nase als das Sinneswerkzeug der Geruchsarbeit. Was die Lehrer ihr jedoch mit dem Tastzeichen für think beibrachten, das empfand die Selbstbeobachtung des armen Kindes sicherlich als die schwere Arbeit, sich der Assoziationen ihrer Tastempfindungen zu erinnern, und mochte so den Kopf als das Werkzeug der Erinnerungsarbeit der Nase, dem Munde und den Fingern gleichstellen.
Lauras Gedächtnis war außerordentlich gut entwickelt. In ihrem vierzehnten Lebensjahre wurde ihr ein kindliches Lesestück in ihrer Sprache "vorgelesen", und Laura mußte es am nächsten Tage aus dem Gedächtnisse niederschreiben. Diese Niederschrift hält sich, wenn man von einer gewissen Freude an kleinen Steigerungen absieht, so genau an das Original, daß eine solche Leistung einem vollsinnigen Kinde gleichen Alters nicht immer gelingen würde. Laura ist also ein Beweis dafür, daß ein außerordentliches Gedächtnis alle oder doch die meisten Assoziationen, deren Verbindungen unsere Welterkenntnis oder Sprache ausmachen, auch ohne Gesicht und Gehör an den Tastsinn binden kann.
Das furchtbare Experiment, welches die Natur an solchen Dreisinnigen, d. h. an Kindern angestellt hat, die zugleich vollständig blind und taub (und infolge der Taubheit auch stumm sind), kann für die Psychologie der Sprache nur unter Anwendung der schärfsten Kritik brauchbare Ergebnisse liefern. Diese Kritik an dem bekanntesten Falle, eben dem der Laura Bridgman, zu üben, ist uns durch die gewissenhafte Monographie W. Jerusalems bequem gemacht. Der Fall ist freilich nicht ganz typisch für die Dreisinnigen. Denn erstens verlor Laura Gesicht und Gehör erst, nachdem sie vollsinnig zwei Jahre alt geworden war und die Anfangsgründe eines normalen Weltbildes und der Sprache schon aufgenommen hatte; von unendlicher Bedeutung wäre es darum gewesen, ihr Gehirn, als sie im Alter von sechzig Jahren gestorben war, nach der Methode von Flechsig zu untersuchen und es mit dem Gehirn dreisinnig Geborener zu vergleichen. Zweitens war Laura offenbar ein ganz ungewöhnlich begabtes, d. h. gedächtnisreiches und wißbegieriges, ehrgeiziges Kind. Der erste Umstand kompliziert ihre Psychologie aufs äußerste; der zweite verführt dazu, die Leistung ihres Lehrers Howe zu überschätzen. Seine Güte gegen das arme Kind kann freilich gar nicht genug hochgeschätzt werden.
Hier möchte ich zunächst nur auf eines hinweisen, daß Laura nämlich durch den ihr gewordenen Sprachunterricht ohne Zweifel eine außerordentliche Wohltat empfing, daß sie in den Stand gesetzt wurde, mit Kindern und dann mit Erwachsenen zu verkehren, daß jedoch weit mehr die Lust am Schwatzen als die Fähigkeit der Welterkenntnis in ihr ausgebildet wurde. Vom Standpunkte der Menschlichkeit ist dieser Unterricht im Verkehren und Schwatzen nicht genug zu rühmen; Doktor Howe verwandelte das bedauernswerte Geschöpf aus einem geschlagenen und gestoßenen Halbtiere in ein fröhliches und verhätscheltes Menschenwesen. Berichte über andere Dreisinnige lassen das Tierische in ihrer vorsprachlichen Zeit noch deutlicher hervortreten; aber niemals dürfen wir übersehen, daß da das Epitheton "tierisch" immer nur metaphorisch gebraucht wird, hauptsächlich die Wildheit meint, daß menschliche Instinkte und Bedürfnisse vorhanden sind, und daß nachher der Besitz der Sprache weit mehr dem Vergnügen, der Geselligkeit oder der Poesie als der Welterkenntnis dient. Die Psychologie muß sich hüten, das Geistesleben Lauras wortabergläubisch dem Geistesleben vollsinniger Menschen um deswillen etwa gleich zu setzen, weil Laura abstrakte Sätze und sogar kleine Aufsätze schreiben konnte, wie nur irgend eine andere Schülerin. Zu beachten dabei und ihr gutzuschreiben ist freilich die traurige Tatsache, daß das Experiment der Natur von den Menschen empfindlich gestört wurde. Der wackere Doktor Howe wollte nämlich mit der Unterweisung in religiösen Begriffen und Sätzen warten, bis Laura die Vorstellungen von Ursache und Wirkung aufgenommen hätte. Die angeblichen Gönner jedoch, welche das bißchen Geld für die Erziehung Lauras hergegeben hatten, setzten es durch, daß sie von ihrem elften Jahre ab in der "Religion" ihrer Gönner unterrichtet wurde, und da mußte sie freilich bald unverstandene Wortfolgen wie "Heiliges Heim (der Himmel) ist von Ewigkeit zu Ewigkeit" für Eingebungen ihrer dichterischen Phantasie halten. Zum Vergleiche ladet ein älterer Fall ein, über welchen kein Geringerer als La Mettrie sein Urteil gesprochen hat in einer der Krankengeschichten, die er seinem vielgeschmähten Traité de l'âme hinzufügte. Als der Taubstumme von Chartres sprechen gelernt hatte, befragten ihn sogleich "geschickte Theologen" über seinen vergangenen Geisteszustand aus; ihre wichtigsten Fragen drehten sich um Gott, die Seele, die Güte und das moralisch Schlechte. Es schien nicht, daß er seine Gedanken hätte so weit schweifen lassen. Das sind die Worte des offiziellen Berichts, wie ihn die Pariser Akademie der Wissenschaften von 1703 liefert. In der Geschichte eines operierten Starblinden, der zunächst eine Kugel und einen Würfel nicht unterscheiden konnte, kommt La Mettrie auf die Dummheit der Fragen zurück und gibt zu verstehen, daß er mit Locke die angeborenen Ideen leugne und im Verstande nichts suche, als was vorher in den Sinnen gewesen ist. "Man hat mehr Gewandtheit darin, Irrtümer zu stützen, als die Wahrheit zu entdecken. Die geschickten Theologen, welche den Taubstummen von Chartres ausfragten, hofften in der Menschennatur Urteile vorzufinden, welche dem ersten Sinneseindruck vorausgingen." Sehr beachtenswert ist dabei, daß La Mettrie sich den Fall von Laura Bridgman im voraus konstruiert, wenn er der Bemerkung des offiziellen Berichts, daß der größte Teil der allgemeinen Vorstellungen aus dem Verkehre der Menschen stamme, die Behauptung entgegenstellt, es gelte das noch allgemeiner. Wäre der Taubstumme auch noch blind gewesen, so wäre er ganz ohne Ideen geblieben, wobei La Mettrie allerdings die Assoziationsfähigkeit der Tasteindrücke übersieht.
Fast gleichzeitig mit La Mettrie, aber doch etwas später, hat sich Diderot mit der Psychologie der Sinne beschäftigt. In seinen Briefen Sur les aveugles und Sur les Sourds et Muets. Besonders der zweite Brief (von 1751) ist des Mannes würdig, dessen Einfluß auf Europens Kultur, insbesondere auf den deutschen Geist (auf Lessing und Goethe) immer noch nicht genug deutlich gemacht worden ist. Der Brief Sur les Sourds et Muets hat Lessing die Idee zu seinem Laokoon und Condillac den Einfall gegeben, seine vielzitierte Marmorstatue durch Gewinn der einzelnen Sinne zu einem Ich werden zu lassen. Diderot war nicht so gründlich wie Lessing, doch viel scharfsichtiger als Condillac. Diderot erfand (darum nenne ich ihn hier) die Fiktion von Menschen, die nur Einen Sinn hätten. Ce serait une société plaisante, que celle de cinq personnes dont chacune n'aurait qu'un sens. Sie würden einander für wahnsinnig halten. Wie das überhaupt alltäglich geschieht: on n'a qu'un sens, et l'on juge de tout. Abgesehen von solchen tiefen Scherzen weiß er besser als Condillac, daß mit dem Tastsinn angefangen werden müsse, le plus profond et le plus philosophe (de tous les sens). Man spielte mit der Vorstellung dreisinniger, einsinniger Menschen. Doch ein lebendiges Wesen wie Laura Bridgman wäre auch noch hundert Jahre später kaum glaubhaft erschienen, hätte sie nicht wirklich gelebt und gelehrte Zeitgenossen in Erstaunen gesetzt.