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Geschichte der Psyche

Besäßen wir eine Sprachgeschichte, die mehr wäre als eine Sammlung philologischer Kuriositäten und eine etymologische Umschau über ein paar hundert Jahre von ein paar Literatursprachen, besäßen wir — was unerreichbar ist — eine ernsthafte Geschichte der menschlichen Sprachen, so hätten wir in ihr auch eine Geschichte des menschlichen Denkens oder vielmehr eine Geschichte der verschiedenen Arten des Volksdenkens. Das Ideal einer solchen Geschichte der Arten des Volksdenkens wäre im Grunde eine Geschichte der menschlichen Seele oder des menschlichen Gehirns. Vorstellen läßt sich so eine Geschichte, nur leider nicht ausführen. Wie wir auf der Unterlage des Darwinismus eine Entwicklungsgeschichte des Auges haben, angefangen von den pigmentierten Hautsteilen bis zu den Augen der Fliege und des Menschen, so könnte besser als bisher eine Geschichte des Gehirns geschrieben werden, angefangen von den Nerven der niedersten Tiere, bis zur Scheidung des Gehirns vom Rückenmark und bis zur Ausbildung der gegenwärtigen Gehirne von Australnegern, Chinesen und Bewohnern der Berliner Wilhelmstraße. Und so wie bereits Anfänge gemacht sind für eine Geschichte des menschlichen Auges oder wenigstens des Farbensinns in den letzten dreitausend Jahren, so müßten sich auch Anhaltspunkte finden für die Geschichte des Gehirns in historischer Zeit; ja die Notizen über die Geschichte des Farbensinns sind bereits Beiträge für eine solche Geschichte des Gehirns. Wir hätten dann anstatt der Anekdotensammlungen, welche wir Geschichte der Psychologie zu nennen belieben, etwas wie eine Geschichte der Psyche. Freilich dürfte eine solche Geschichte, selbst wenn wir was Rechtes darüber wüßten, nicht gut mit den Schlagworten der gegenwärtigen Psychologie zu schreiben sein. Man müßte diese Geschichte der Seele oder des Gehirns schreiben, ohne auch nur ein einzigesmal Worte wie Verstand oder Vernunft zu gebrauchen. Auch mit dem Bewußtsein wäre nicht viel anzufangen. Wohl aber würde sich eine ideale Geschichte der Sprache gar sehr einer solchen Geschichte der Seele oder des Gehirns nähern. Unsere Sprachkritik möchte gern eine Untersuchung des gegenwärtigen Gehirns oder der gegenwärtigen Seele sein; ein Wissen könnte sie nur bieten, wenn eine Geschichte der Seelen oder der Sprachen vorausgegangen wäre.

Die Aufgabe ist so groß, daß selbst eine vorbereitende und armselige Sammlung von Notizen zur Entwicklungsgeschichte der Sprache, der Seele oder des Gehirns schon dankenswert wäre. Es wäre der erste Beginn einer Wissenschaft vom Menschen. Hat man doch auch erst seit kurzem begonnen, andere menschliche Instinkte historisch zu untersuchen. Wir besitzen erst seit wenigen Jahren, zum nicht geringen Entsetzen der Philister, Untersuchungen über die Geschichte der Scham, über die Geschichte des Gewissens oder der Moral. Besinnen wir uns auf einen allgemeinen Ausdruck für solche im höhern Sinne darwinistische Untersuchungen, so müssen wir armen sprechenden Menschen zu dem Ausdrucke zurückgreifen, den wir soeben abgelehnt haben und das sogenannte Bewußtsein bemühen. In der Scham kommt der Geschlechtstrieb zum Bewußtsein, im Gewissen kommt dem einzelnen die Volkssitte zum Bewußtsein, in der Sprache kommt dem einzelnen die Denkgewohnheit seines Volkes zum Bewußtsein. So wären die historischen Untersuchungen über die Scham und das Gewissen bereits hübsche Beiträge zu einer Geschichte des Menschengehirns in der historischen Zeit.

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