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Sprache und Wirklichkeit

Spencers Definition ist so leer und abstrakt, dass ihr Wortlaut uns erlauben würde, sie nun für abgetan zu erklären. Das aber wäre ungerecht, denn Spencer selbst denkt sich allerlei bei seinen Abstraktionen, und wir müssen seinen Gedankengang ein wenig zurückverfolgen. Er weiß natürlich so gut wie ich, dass der Begriff der "Kraft" Stoff und Bewegung mit umfaßt, und es ist nur der heimliche Wunsch. zu seiner Definition zu kommen, was ihn irre macht. Wenn er auch nicht erkannt hat, dass die Erhaltung der Energie, was er "Fortbestehen der Kraft" nennt, etwas Selbstverständliches ist, noch weniger als eine Tautologie, nämlich nichts als die Weisheit: "Wir brauchen keinen Unsinn zu denken," — so stellt er doch das Fortbestehen der Kraft (oder Energie) sehr gut als unsere äußerste und allgemeinste Kenntnis von der Wirklichkeit hin und formt den Satz noch besser um, wenn er von dem Fortbestehen der Beziehungen zwischen den Kräften (oder Energien) spricht. Er hält da freilich für einen logischen Schluß, was gerade nur eine Tautologie ist; aber der Ausdruck ist vortrefflich. Nun aber vollzieht sich in seinem Kopfe dasjenige, was regelmäßig den Saltomortale von der Wirklichkeit zum Denken, von unserer wirklichen Erkenntnis zum System ausmacht. Er hat den allgemeinsten Ausdruck für die Wirklichkeit gefunden und kann dem Wunsche nicht widerstehen, hinter der Welt den Gott zu suchen, die alten Mythen unserer Sprache hinter den Gesetzen der Wirklichkeit. Er sieht das Spiel der Kräfte in der Natur, und er lebt mit seinem Selbstbewußtsein in der menschlichen Gesellschaft mit ihren Rechten und Sitten. Er hat wie jeder andere die Sehnsucht, das Geheimnis zu begreifen, wie die Kräfte der Anziehung und Abstoßung, wie Chemismus und Elektrizität sich zu den moralischen Gesetzen der menschlichen Gesellschaft "entwickelt" haben. Er sieht den Gott nicht, der in dem Begriff Entwicklung versteckt ist. Er hält den Begriff Entwicklung für die Bezeichnung von etwas Wirklichem und macht den Kopfsprung von der Erhaltung der Energie zur Evolution. Man achte genau auf den Übergang. Er hat sich belehren lassen, dass das oberste Gesetz der Wirklichkeit das Fortbestehen der Beziehungen zwischen den Kräften ist. Dieses Gesetz will nur besagen, dass die Welt im Innersten nicht mehr und nicht minder wird, während die Erscheinungsformen der Kraft, Stoff und Bewegung nämlich, sich da und dort anders verteilen. Diese Andersverteilungen von Stoff und Bewegung sind das Blendwerk, das wir Wirklichkeitswelt nennen. Diese Andersverteilungen sind wahrscheinlich nicht regellos. Wahrscheinlich hat Darwin recht, wenn er aufmerksam durch ihre erdrückende Fülle geht und überall auf merkwürdige Ähnlichkeiten hinweist. Sie sind würdig, gemerkt zu werden, und die Menschheit hat es schon vor Darwin getan. Die ganze Geschichte des Menschengeistes ist die Summe des Gedächtnisses solcher Ähnlichkeiten; und die ganze Geschichte der Natur ist vielleicht das wirkliche Korrelat dazu, nämlich die Summe der Ähnlichkeiten, die das unbewußte Gedächtnis gemerkt hat, die Erblichkeit. So dämmert uns etwas, was uns der Natur zu nähern scheint, wie Nebel mitunter die Gegenstände nähert. Herbert Spencer aber will so wenig wie andere Denker vor ihm sich mit diesem Nebel begnügen; nichts weiß er, absolut nichts Anderes weiß er, als dass die Beziehungen zwischen den Kräften fortbestehen und das, was wir wahrnehmen, nur Andersverteilungen dieser Kräfte, das heißt ihrer Stoffe und Bewegungen sind. Sehnsüchtig will er aber die Welt verstehen und sucht ein Gesetz für diese Andersverteilungen. Während er es aber noch zu suchen vorgibt, hat es ihm der augenblickliche Stand des Menschengeistes schon diktiert. Für dieses Gesetz, das er erst sucht, liefert ihm der zeitgenössische Sprachschatz als umfassendsten Ausdruck das Wort Evolution. Evolution ist nichts weiter als das Suchen, als die Frage nach demselben Gesetz, das Spencer sucht. Das würde Spencer zugeben, wenn ihn die Kritik beim Nacken faßte und mit der Stirn auf das Wort stieße. Weil er aber diese kritische Macht nicht fühlt, gibt es einen Augenblick, wo er die Frage mit der Beantwortung verwechselt und wo er das fragende Wort Evolution für das gesuchte Gesetz der Andersverteilungen hält.

Darum ist seine Definition so scholastisch geworden, und darum ist ihr ehrlicher Sinn etwa folgender: wirklich ist nichts als das Fortbestehen der Beziehungen zwischen den Kräften; was wir wahrnehmen, sind die Andersverteilungen von Stoff und Bewegung, dieser Erscheinungsformen der Kräfte. Weil eine Kraft aber auch das Produkt von Stoff und Bewegung ist, so wirkt selbstverständlich jede Andersverteilung des Stoffs auf die Bewegung und umgekehrt; wir können auch sagen, dass jede Vereinheitlichung von Stoff Differenzierung der Bewegung erzeugt und umgekehrt; diese Tautologie nennen wir aber das oberste Gesetz, die Evolution, weil wir doch den Wunsch haben zu finden, was wir suchen.

Wer sucht, der findet. Und wenn er nicht findet, was er gesucht hat, so beruhigt er sich bei dem ersten besten Gefundenen. Wenn die Polizei einen Verbrecher lange gesucht hat, so greift sie nach dem ersten besten und wirft, ihm das begangene Verbrechen an den Hals. So ist es in der Geschichte der Philosophie schon öfter gegangen. Klassisch ist das Beispiel von Kant, der auszog, das oberste Moralprinzip zu finden. Unverrückbar stand es in seinem Kopfe: das gesuchte oberste Moralprinzip müsse so beschaffen sein, dass es allgemein gültig wäre; dann machte er eines Tages den Saltomortale und verwechselte die Aufgabe mit der Lösung und glaubte sein Gesetz gefunden zu haben, da er als obersten Grundsatz aussprach: dein Moralprinzip muß allgemein gültig sein können, dann ist es das oberste Moralprinzip. Niemand wagte zu lachen.1 Und so hat in unseren Tagen niemand gelacht, als Herbert Spencer auszog, das oberste Gesetz der Andersverteilungen zu finden, und zu der Tautologie gelangte, das oberste Gesetz, das Evolution heißen soll, ist das Gesetz der Andersverteilungen. Auch Spencer ist ein armer sprechender Mensch, ist wortabergläubisch, ist im Sinne der Scholastiker ein "Realist". 1: Auf das unedle Lachen von Salomon Maimon möchte ich mich nicht gern berufen; Maimon sagt (Versuch einer neuen Logik, S. 33 des Vorworts): "Die Frage in der Kantischen Moral ... ist der Frage in der angewandten Mathematik ähnlich: Wie, unter Voraussetzung eines anderen Gesetzes der Schwere als des allgemein bekannten, eine Kanone gerichtet werden muß, um diese oder jene Wirkung hervorzubringen?'" Das groteske Genie Maimons gewinnt aus zeitlicher Entfernung; im Umgang muß er schwierig, ja oft widerwärtig gewesen sein. Er war nicht im Unrecht, wenn er in seinem Mauscheldeutsch (er hat es nie zur Beherrschung einer Kultursprache gebracht) sich selbst einen Taucher nach Weisheit, die ihn verhöhnenden Gelehrten "mit Büchern beladene Esel" nannte. Seine kurzweilige Lebensgeschichte ist immer ehrlich, auch wo er die mißglückten Ansätze zum Selbstmord oder zur Taufe erzählt. Sein Verhältnis zu Kant macht ihm keine Unehre; er wurde dem Großen lästig durch seine talmudische Fragerei, aber Kant fand — drei Schritt vom Leibe — in Maimon "kein gemeines Talent zu tiefsinnigen Wissenschaften". Maimon war ein sehr selbstbewußter Skeptiker; bis zu einem bewußten Standpunkt Kant gegenüber hat er es nicht gebracht; nur seine geniale Erkenntnis, dass eine vorläufige Annahme sei (Vaihingers Fiktion), was bei Kant zum Dogma zu versteinern drohte, blitzt von Zeit zu Zeit leuchtend auf.