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Atombegriff

Aus der Geschichte des Materialismus ist nichts so belehrend wie die Geschichte des Atombegriffs. Es liegt im Wesen des menschlichen Verstandes, zu diesem Scheinbegriff zu gelangen. Das Kind zerlegt sein Spielzeug und fängt nachher zu weinen an. Der philosophische Mensch zerlegt die Dinge so lange, bis nur Stoff übrig bleibt, dann zerlegt er den Stoff, solange er kann; ist er fertig geworden, so schreit er "Atom". Sicherlich besteht ein praktischer Unterschied zwischen den Atomen des Demokritos, die dann wieder von Gassendi aufgenommen wurden und die man sich kindlich in seltsamen Formen ausmalte, und den Atomen unserer Naturforscher, die man sich zwar ebenfalls in geometrischen Figuren ausmalt, die aber doch der mathematischen Berechnung zugänglich gemacht worden sind. Mit den alten Atomen konnte man keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken; mit Hilfe der neuen Atomistik verdienen die chemischen Fabriken Millionen. Das ist ein sehr erfreulicher Unterschied, aber ein philosophischer ist er nicht. Nach wie vor versteht der ungebildete wie der forschende Materialist unter Atom die letzten und kleinsten Bestandteile der Welt, der physischen wie der geistigen Erscheinungen. Nach wie vor stellen sich Laien wie Gelehrte unter Atomen etwas vor, was etwa den unsichtbaren und zauberhaften Zwergen des mittelalterlichen Aberglaubens entspricht. Nach wie vor sind die Atome ein sprachlicher Ausdruck für die Grenze unserer Sinneswahrnehmungen. Die Grenze ist durch die Erfindung und Ausbildung des Mikroskops weiter hinausgeschoben worden, das heißt das Reich der unbekannten Atome beginnt etwas ferner, als es früher begonnen hat. Geblieben ist der törichte Selbstbetrug, die Welt durch die Atome erklären zu wollen, das heißt die Erscheinungen unserer Sinnesorgane durch einen abstrakten Begriff, von welchem wir durchaus nichts Anderes wissen, als dass er etwas Negatives bezeichnet, und zwar, dass wir, was er bezeichnet, mit unseren Sinnesorganen nicht fassen können. Man sage sich das einmal ganz ehrlich. Ebensogut könnte ein Monarch für sein eigentliches Reich die Länder erklären, die jenseits seines Reiches liegen. Für uns, die wir wissen, dass alle Welterklärung nur Weltbeschreibung ist, werden die philosophischen Ansprüche des atomistischen Materialismus noch armseliger. Denn diese Lehre beschreibt die Naturerscheinungen wohl oder übel so lange, als die Sinnesorgane und deren Verstärkungen hinreichen; wo die Wissenschaft dann nichts mehr sehen und fühlen kann, wo also jede Beschreibung aufhört, da greift sie zum negativen Begriff des Atoms und nennt das die Erklärung. Eine Hypothese ist wieder einmal zum technischen Wort geworden. (Vgl. den Artikel "Atom" in meinem "Wörterbuch der Philosophie".)