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Situation und Kindersprache

Wenn kleine Kinder sprechen lernen, so kommt es ebenso oft vor, dass die Kinder die Sprachlaute von Amme oder Mutter nachplappern, wie dass die Amme oder Mutter das Lallen des Kindes zur Verständigung artikulierend nachahmt. Dass das Kind doch schließlich die Sprache der Erwachsenen lernt, rührt nur daher, dass es sich in einer erschreckenden Minorität gegenüber seinem Volke befindet und eben einer fertigen Sprache gegenübersteht. In beiden Fällen — ob nun das Kind oder die erwachsene Person den Sprachlaut zuerst hervorbringt — besteht das Sprechenlernen jedoch darin, dass der Sprachlaut oder vielmehr das Bewegungsgefühl dieses Sprachlauts sich mit einer Seelensituation des Kindes assoziiert. Der Sprachlaut weist auf die Situation des Hungers, der Nässe, des Lichtes usw. hin und prägt sich nach einigen Wiederholungen so fest ein, dass er an diese Situation erinnert. Wir wissen, dass das Wort "Milch" oder der entsprechende kindliche Sprachlaut wirklich nur an die allgemeine Situation erinnert und darum in der Sprache der Erwachsenen bald mit Hunger, bald mit Befriedigung, mit Brust oder Flasche, mit Bitte oder Fröhlichkeit übersetzt werden müßte. Daraus ist es auch zu begreifen, weshalb Mutter und Kind einander verstehen, trotzdem das Kind anfangs niemals Sätze spricht, sondern nur einzelne Sprachlaute. Diese erinnern an die gesamte Situation (unklar freilich), und mehr leistet im Grunde auch die entwickelte Sprache nicht. Ein größerer Unterschied zwischen der Sprache des kleinen Kindes und der der Erwachsenen besteht aber darin, dass das außerordentliche Gedächtnis der Erwachsenen jede vergangene Situation Wachrufen kann, während der Sprachlaut des kleinen Kindes immer nur auf die gegenwärtige Situation hinweist. Diese hinweisende, deiktische Sprache ist nur insofern ebenfalls eine Tat des Gedächtnisses, als das Bewegungsgefühl des bestimmten Sprachlautes sich sehr früh mit der bestimmten Situation assoziiert hat. Das kleine Kind verbindet z. B. mit seinem Sprachlaute "Milch" oder dem entsprechenden höchstens die Vorstellung der unmittelbar folgenden Zukunft (weinerlicher, bittender Ton) oder der unmittelbar vorausgegangenen Vergangenheit (fröhlicher, dankender Ton).

Diese Beziehung auf die nächsten Lust- und Unlustgefühle ist charakteristisch für die Sprache des kleinen Kindes; die gegenwärtige Situation wird ja nur dann wahrgenommen und nur insoweit wahrgenommen, als sie interessiert. Dieses Interesse ist beim kleinen Kinde ein rein animalisches. Es hat nicht die geringste Veranlassung, mit seinem Denken oder Sprechen über diese Situation und über die Gegenwart, nächst den Momenten vorher und nachher, hinauszugehen. Das Interesse des erwachsenen Menschen oder gar das des "uneigennützigen" Gelehrten oder Philosophen ist freilich ungleich ausgedehnter und indirekter als dieses animalische Interesse des Kindes. Aber auch der Vater, und wenn er ein Philosoph wäre, nimmt schließlich nur wahr, was durch ein noch so indirektes Interesse seine Aufmerksamkeit erregt, und hat in seinem Gehirn nur die Erinnerungen an solche Situationen, die einmal seine Aufmerksamkeit erregt haben. So weist auch jedes Wort und jeder Wortteil der entwickelten Sprache schließlich immer auf Situationen hin, die irgend einmal gegenwärtige waren.

Die Verständigung zwischen der Mutter oder Amme einerseits und dem Kinde anderseits entsteht aus der Gemeinsamkeit des Situationsbildes. Es ist ja wahr, dass der Enge des Horizontes die kleine Zahl der Sprachlaute entspricht; trotzdem darf man nicht glauben, dass die wenigen Sprachlaute des Kindes zur Verständigung irgendwie hinreichen könnten, wenn nicht eben die allen Beteiligten gegenwärtige Situation die eigentliche Sprache mitschüfe. Jeder einzelne dieser wenigen Sprachlaute hat ja eine gewisse Gruppe von Empfindungen zum Ziel, aber doch nur zum Ziel, auf welches er hinweist. Innerhalb der Gruppe ist der Sprachlaut doch nur unser "da", und die bekannte Situation sagt das Übrige. Das Kind macht sich auch gar nichts daraus, die paar Sprachlaute miteinander zu vertauschen. Die Mutter oder Amme versteht es doch aus der Situation heraus. Und der Ton ist fast noch wichtiger als der "artikulierte" Sprachlaut. Der Ton, der weinerliche oder fröhliche Ausdruck sogar schon, bestimmt in der Situation alles, was die entwickelte Sprache später so künstlich als Beschreibung der Situation festzuhalten sucht: den Gegenstand der Aufmerksamkeit, die Handlung, die Beziehung auf das Kind, die Zeit der Handlung, die Richtung usw., kurz die ganze Vielfältigkeit dessen, was wir die Grammatik der entwickelten Sprache nennen.

Noch ein anderes und überaus tief reichendes Verhältnis zwischen dem Worte und der Situation ist schon in der Kindersprache vorhanden, ein Umstand, der die Inkonsequenz des Sprachkritikers, die Liebe zu seiner Muttersprache, vielleicht doch wieder erklärt. Wir alle haben an dem Gebrauche unserer Muttersprache eine tiefe Freude. Es wäre wohlfeil, sie aus dem Behagen allein zu erklären, das uns die bequeme und sichere Art zu schwätzen gewährt. Diese Schwatzfreude hat viel mit Eitelkeit zu tun und findet sich noch häufiger beim Plappern in einer fremden Sprache. Das tiefe Gefühl für die Muttersprache hat weit mehr Ähnlichkeit mit der leidenschaftlichen Empfindung für die Geliebte; auch die Liebe ist beim recht gesunden Menschen (man denke an die Definition Spinozas) innig verbunden mit der Erinnerung an Wollust. Wer recht liebt, der erwartet von der Umarmung eines andern Weibes als des einen gar keine Lust, weil ihm die Erinnerung dieses Gefühls der Lust allein mit der Vorstellung der Geliebten, ja sogar mit der Vorstellung von ihrem Namen sich assoziiert. Dieses Gefühl der Lust empfindet man auch im Gebrauche seiner Muttersprache. Alle hohen Taten der Vaterlandsliebe hängen mit diesem Gefühl der Lust zusammen. Und doch ist sich der erwachsene Mensch keiner solchen Lust beim Gebrauche der Worte bewußt.

Aber Lust, die Wollust der Befriedigung seiner höchsten animalischen Interessen, hat der Mensch als Kind beim Sprechenlernen erfahren. Die Mutterliebe, diese Fortsetzung der Geschlechtsliebe, hat im kleinen Kinde die Assoziation zwischen den Sprachlauten und der Befriedigung hergestellt. Die ersten Sprachlaute dienten der Befriedigung der verzweifelten Lebensinteressen des Kindes, und wir können nur ahnen, welche Lust das Kind dabei empfindet, wenn es z. B. mit dem ersten Sprachlaute "ma" zugleich seinen Hunger und die Mutterbrust und wer weiß was noch sich vorstellt. Wer mir diese Darstellung nicht glauben will, der beobachte einmal, wie das Kind nach erfolgter Sättigung den Sprachlaut "ma" glückselig und fast liebkosend wiederholt.