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〈Schluß〉

In den einleitenden Blättern dieses Bildersaals habe ich berichtet, auf welchen Wegen sich die Popularität Shakespeares in England und Deutschland verbreitete und wie hier und dort ein Verständnis seiner Werke befördert ward. Leider konnte ich in bezug auf romanische Länder keine so erfreuliche Nachrichten mitteilen: in Spanien ist der Name unseres Dichters bis auf heutigen Tag ganz unbekannt geblieben; Italien ignoriert ihn vielleicht absichtlich, um den Ruhm seiner großen Poeten vor transalpinischer Nebenbuhlerschaft zu beschützen; und Frankreich, die Heimat des herkömmlichen Geschmacks und des gebildeten Tons, glaubte lange Zeit den großen Briten hinlänglich zu ehren, wenn es ihn einen genialen Barbaren nannte und über seine Roheit sowenig als möglich spöttelte. Indessen die politische Revolution, welche dieses Land erlebte, hat auch eine literarische hervorgebracht, die vielleicht an Terrorismus die erstere überbietet, und Shakespeare ward bei dieser Gelegenheit aufs Schild gehoben. Freilich, wie in ihren politischen Umwälzungsversuchen, sind die Franzosen selten ganz ehrlich in ihren literarischen Revolutionen; wie dort, so auch hier, preisen und feiern sie irgendeinen Helden, nicht ob seinem wahren inwohnenden Werte, sondern wegen des momentanen Vorteils, den ihre Sache durch solche Anpreisung und Feier gewinnen kann; und so geschieht es, daß sie heute emporrühmen, was sie morgen wieder herabwürdigen müssen, und umgekehrt. Shakespeare ist seit zehn Jahren in Frankreich, für die Partei, welche die literarische Revolution durchkämpft, ein Gegenstand der blindesten Anbetung. Aber ob er bei diesen Männern der Bewegung eine wirkliche gewissenhafte Anerkennung oder gar ein richtiges Verständnis gefunden hat, ist die große Frage. Die Franzosen sind zu sehr die Kinder ihrer Mütter, sie haben zu sehr die gesellschaftliche Lüge mit der Ammenmilch eingesogen, als daß sie dem Dichter, der die Wahrheit der Natur in jedem Worte atmet, sehr viel Geschmack abgewinnen oder gar ihn verstehen könnten. Es herrscht freilich bei ihren Schriftstellern seit einiger Zeit ein unbändiges Streben nach solcher Natürlichkeit; sie reißen sich gleichsam verzweiflungsvoll die konventionellen Gewänder vom Leibe und zeigen sich in der schrecklichsten Nacktheit … Aber irgendein modischer Fetzen, welcher ihnen dennoch immer anhängen bleibt, gibt Kunde von der überlieferten Unnatur und entlockt dem deutschen Zuschauer ein ironisches Lächeln. Diese Schriftsteller mahnen mich immer an die Kupferstiche gewisser Romane, wo die unsittlichen Liebschaften des achtzehnten Jahrhunderts abkonterfeit sind und, trotz dem paradiesischen Naturkostüme der Herren und Damen, jene ihre Zopfperücken, diese ihre Turmfrisuren und ihre Schuhe mit hohen Absätzen beibehalten haben.

Nicht durch direkte Kritik, sondern indirekt, durch dramatische Schöpfungen, die dem Shakespeare mehr oder minder nachgebildet sind, gelangen die Franzosen zu einigem Verständnis des großen Dichters. Als ein Vermittler in dieser Weise ist Victor Hugo ganz besonders zu rühmen. Ich will ihn hiermit keineswegs als bloßen Nachahmer des Briten im gewöhnlichen Sinne betrachtet wissen. Victor Hugo ist ein Genius von erster Größe, und bewunderungswürdig ist sein Flug und seine Schöpferkraft; er hat das Bild und hat das Wort; er ist der größte Dichter Frankreichs; aber sein Pegasus hegt eine krankhafte Scheu vor den brausenden Strömen der Gegenwart und geht nicht gern zur Tränke, wo das Tageslicht in den frischen Fluten sich abspiegelt … vielmehr unter den Ruinen der Vergangenheit sucht er, zu seiner Erlabung, jene verschollenen Quellen, wo einst das hohe Flügelroß des Shakespeare seinen unsterblichen Durst gelöscht hat. Ist es nun, weil jene alten Quellen, halbverschüttet und übermoort, keinen reinen Trunk mehr bieten: genug, Victor Hugos dramatische Gedichte enthalten mehr den trüben Moder als den belebenden Geist der altenglischen Hippokrene, es fehlt ihnen die heitere Klarheit und die harmonische Gesundheit … und ich muß gestehen, zuweilen erfaßt mich der schauerliche Gedanke, dieser Victor Hugo sei das Gespenst eines englischen Poeten, aus der Blütezeit der Elisabeth, ein toter Dichter, der verdrießlich dem Grabe entstiegen, um in einem anderen Lande und in einer anderen Periode, wo er vor der Konkurrenz des großen Williams gesichert, einige postume Werke zu schreiben. In der Tat, Victor Hugo mahnt mich an Leute wie Marlowe, Decker, Heywood usw., die in Sprache und Manier ihrem großen Zeitgenossen so ähnlich waren und nur seinen Tiefblick und Schönheitssinn, seine furchtbare und lächelnde Grazie, seine offenbarende Natursendung entbehrten … Und ach! zu den Mängeln eines Marlowes, Deckers und Heywoods gesellt sich bei Victor Hugo noch das schlimmste Entbehrnis: es fehlt ihm das Leben. Jene litten an kochender Überfülle, an wildester Vollblütigkeit, und ihr poetisches Schaffen war geschriebenes Atmen, Jauchzen und Schluchzen; aber Victor Hugo, bei aller Verehrung, die ich ihm zolle, ich muß es gestehen, hat etwas Verstorbenes, Unheimliches, Spukhaftes, etwas grabentstiegen Vampirisches … Er weckt nicht die Begeisterung in unsern Herzen, sondern er saugt sie heraus … Er versöhnt nicht unsere Gefühle durch poetische Verklärung, sondern er erschreckt sie durch widerwärtiges Zerrbild … Er leidet an Tod und Häßlichkeit.

Eine junge Dame, die mir sehr nahesteht, äußerte sich jüngst über diese Häßlichkeitssucht der Hugoschen Muse mit sehr treffenden Worten. Sie sagte nämlich: „Die Muse des Victor Hugo mahnt mich an das Märchen von der wunderlichen Prinzessin, die nur den häßlichsten Mann heuraten wollte und in dieser Absicht im ganzen Lande das Aufgebot ergehen ließ, daß sich alle Junggesellen von ausgezeichneter Mißbildung an einem gewissen Tage vor ihrem Schlosse, als Ehekandidaten, versammeln sollten … Da gab’s nun freilich eine gute Auswahl von Krüppeln und Fratzen, und man glaubte das Personal eines Hugoschen Werkes vor sich zu sehen … Aber Quasimodo führte die Braut nach Hause.“

Nach Victor Hugo muß ich wieder des Alexander Dumas erwähnen; auch dieser hat dem Verständnis des Shakespeare in Frankreich mittelbar vorgearbeitet. Wenn jener durch Extravaganz im Häßlichen die Franzosen daran gewöhnte, im Drama nicht bloß die schöne Drapierung der Leidenschaft zu suchen, so bewirkte Dumas, daß seine Landsleute an dem natürlichen Ausdruck der Leidenschaft großes Gefallen gewannen. Aber ihm galt die Leidenschaft als das Höchste, und in seinen Dichtungen usurpierte sie den Platz der Poesie. Dadurch freilich wirkte er desto mehr auf der Bühne. Er gewöhnte das Publikum in dieser Sphäre, in der Darstellung der Leidenschaften, an die größten Kühnheiten des Shakespeare; und wer einmal an „Heinrich III.“ und „Richard Darlington“ Gefallen fand, klagte nicht mehr über Geschmacklosigkeit im „Othello“ und „Richard III.“ Der Vorwurf des Plagiats, den man ihm einst anheften wollte, war ebenso töricht wie ungerecht. Dumas hat freilich in seinen leidenschaftlichen Szenen hie und da etwas dem Shakespeare entlehnt, aber unser Schiller tat dieses mit noch weit kühnerem Zugriff, ohne dadurch irgendeinem Tadel zu verfallen. Und gar Shakespeare selber, wieviel entlehnte er nicht seinen Vorgängern! Auch diesem Dichter begegnete es, daß ein sauertöpfischer Pamphletist mit der Behauptung gegen ihn auftrat, das Beste seiner Dramen sei den ältern Schriftstellern entwendet. Shakespeare wird bei dieser lächerlichen Gelegenheit ein Rabe genannt, welcher sich mit dem fremden Gefieder des Pfauen geschmückt habe. Der Schwan von Avon schwieg und dachte vielleicht in seinem göttlichen Sinn: ‚Ich bin weder Rabe noch Pfau!‘ und wiegte sich sorglos auf den blauen Fluten der Poesie, manchmal hinauflächelnd zu den Sternen, den goldenen Gedanken des Himmels.

Des Grafen Alfred de Vigny muß hier ebenfalls Erwähnung geschehen. Dieser Schriftsteller, des englischen Idioms kundig, beschäftigte sich am gründlichsten mit den Werken des Shakespeare, übersetzte einige derselben mit großem Geschick, und dieses Studium übte auch auf seine Originalarbeiten den günstigsten Einfluß. Bei dem feinhörigen und scharfäugigen Kunstsinn, den man dem Grafen de Vigny zuerkennen muß, darf man annehmen, daß er den Geist Shakespeares tiefer behorcht und beobachtet habe als die meisten seiner Landsleute. Aber das Talent dieses Mannes, wie auch seine Denk- und Gefühlart, ist auf das Zierliche und Miniaturmäßige gerichtet, und seine Werke sind besonders kostbar durch ihre ausgearbeitete Feinheit. Ich kann mir’s daher wohl denken, daß er manchmal wie verblüfft stehenblieb vor jenen ungeheuren Schönheiten, die Shakespeare gleichsam aus den gewaltigsten Granitblöcken der Poesie ausgehauen hat … Er betrachtete sie gewiß mit ängstlicher Bewunderung, gleich einem Geldschmied, der in Florenz jene kolossalen Pforten des Baptisterii anstarrt, die, einem einzigen Metallguß entsprungen, dennoch zierlich und lieblich, wie ziseliert, ja wie die feinste Bijouteriearbeit aussehen.

Wird es den Franzosen schon schwer genug, die Tragödien Shakespeares zu verstehen, so ist ihnen das Verständnis seiner Komödien fast ganz versagt. Die Poesie der Leidenschaft ist ihnen zugänglich; auch die Wahrheit der Charakteristik können sie bis auf einen gewissen Grad begreifen: denn ihre Herzen haben brennen gelernt, das Passionierte ist so recht ihr Fach, und mit ihrem analytischen Verstande wissen sie jeden gegebenen Charakter in seine feinsten Bestandteile zu zerlegen und die Phasen zu berechnen, worin er jedesmal geraten wird, wenn er mit bestimmten Weltrealitäten zusammenstößt. Aber im Zaubergarten der Shakespeareschen Komödie ist ihnen all dieses Erfahrungswissen von wenig Hülfe. Schon an der Pforte bleibt ihnen der Verstand stehen, und ihr Herz weiß kein Bescheid, und es fehlt ihnen die geheimnisvolle Wünschelrute, deren bloße Berührung das Schloß sprengt. Da schauen sie mit verwunderten Augen durch das goldene Gitter und sehen, wie Ritter und Edelfrauen, Schäfer und Schäferinnen, Narren und Weise unter den hohen Bäumen einherwandeln; wie der Liebende und seine Geliebte im kühlen Schatten lagern und zärtliche Reden tauschen; wie dann und wann ein Fabeltier, etwa ein Hirsch mit silbernem Geweih, vorüberjagt oder gar ein keusches Einhorn aus dem Busche springt und der schönen Jungfrau sein Haupt in den Schoß legt … Und sie sehen, wie aus den Bächen die Wasserfrauen, mit grünem Haar und glänzenden Schleiern, hervortauchen und wie plötzlich der Mond aufgeht … Und sie hören dann, wie die Nachtigall schlägt … Und sie schütteln ihre klugen Köpflein über all das unbegreiflich närrische Zeug! Ja, die Sonne können die Franzosen allenfalls begreifen, aber nicht den Mond, und am allerwenigsten das selige Schluchzen und melancholisch entzückte Trillern der Nachtigallen …

Ja, weder ihre empirische Bekanntschaft mit den menschlichen Passionen noch ihre positive Weltkenntnis ist den Franzosen von einigem Nutzen, wenn sie die Erscheinungen und Töne enträtseln wollen, die ihnen aus dem Zaubergarten der Shakespeareschen Komödie entgegenglänzen und -klingen … Sie glauben manchmal ein Menschengesicht zu sehen, und bei näherem Hinblick ist es eine Landschaft, und was sie für Augenbraunen hielten, war ein Haselbusch, und die Nase war ein Felsen und der Mund eine kleine Quelle, wie wir dergleichen auf den bekannten Vexierbildern schauen … Und umgekehrt, was die armen Franzosen für einen bizarr gewachsenen Baum oder wunderlichen Stein ansahen, das präsentiert sich bei genauerer Betrachtung als ein wirkliches Menschengesicht von ungeheuerem Ausdruck. Gelingt es ihnen etwa, mit höchster Anstrengung des Ohres irgendein Wechselgespräch der Liebenden, die im Schatten der Bäume lagern, zu belauschen, so geraten sie in noch größere Verlegenheit … Sie hören bekannte Worte, aber diese haben einen ganz anderen Sinn; und sie behaupten dann, diese Leute verstünden nichts von der flammenden Leidenschaft, von der großen Passion, das sei witziges Eis, was sie einander zur Erfrischung böten, nicht lodernder Liebestrunk … Und sie merkten nicht, daß diese Leute nur verkleidete Vögel sind und in einer Koteriesprache konversieren, die man nur im Traume oder in der frühesten Kindheit erlernen kann … Aber am schlimmsten geht es den Franzosen da draußen an den Gitterpforten der Shakespeareschen Komödie, wenn manchmal ein heiterer Westwind über ein Blumenbeet jenes Zaubergartens dahinstreicht und ihnen die unerhörtesten Wohlgerüche in die Nase weht … „Was ist das?“

Die Gerechtigkeit verlangt, daß ich hier eines französischen Schriftstellers erwähne, welcher mit einigem Geschick die Shakespeareschen Komödien nachahmte und schon durch die Wahl seiner Muster eine seltene Empfänglichkeit für wahre Dichtkunst beurkundete. Dieser ist Herr Alfred de Musset. Er hat vor etwa fünf Jahren einige kleine Dramen geschrieben, die, was den Bau und die Weise betrifft, ganz den Komödien des Shakespeare nachgebildet sind. Besonders hat er sich die Kaprice (nicht den Humor), die in denselben herrscht, mit französischer Leichtigkeit zu eigen gemacht. Auch an einiger zwar sehr dünndrähtiger, aber doch probehaltiger Poesie fehlte es nicht in diesen hübschen Kleinigkeiten. Nur war zu bedauern, daß der damals jugendliche Verfasser außer der französischen Übersetzung des Shakespeare auch die des Byron gelesen hatte und dadurch verleitet ward, im Kostüme des spleenigen Lords jene Übersättigung und Lebenssattheit zu affektieren, die in jener Periode unter den jungen Leuten zu Paris Mode war. Die rosigsten Knäbchen, die gesundesten Gelbschnäbel behaupteten damals, ihre Genußfähigkeit sei erschöpft, sie erheuchelten eine greisenhafte Erkältung des Gemütes und gaben sich ein zerstörtes und gähnendes Aussehen.

Seitdem freilich ist unser armer Monsieur Musset von seinem Irrtume zurückgekommen, und er spielt nicht mehr den Blasé in seinen Dichtungen – aber ach! seine Dichtungen enthalten jetzt, statt der simulierten Zerstörnis, die weit trostloseren Spuren eines wirklichen Verfalls seiner Leibes- und Seelenkräfte … Ach! dieser Schriftsteller erinnert mich an jene künstlichen Ruinen, die man in den Schloßgärten des achtzehnten Jahrhunderts zu erbauen pflegte, an jene Spielereien einer kindischen Laune, die aber im Laufe der Zeit unser wehmütigstes Mitleid in Anspruch nehmen, wenn sie in allem Ernste verwittern und vermodern und in wahrhafte Ruinen sich verwandeln.

Die Franzosen sind, wie gesagt, wenig geeignet, den Geist der Shakespeareschen Komödien aufzufassen, und unter ihren Kritikern habe ich, mit Ausnahme eines einzigen, niemand gefunden, der auch nur eine Ahnung von diesem seltsamen Geiste besäße. Wer ist das? Wer ist jene Ausnahme? Gutzkow sagt, der Elefant sei der Doktrinär unter den Tieren. Und ein solcher verständiger und sehr schwerfälliger Elefant hat das Wesen der Shakespeareschen Komödie am scharfsinnigsten aufgefaßt. Ja, man sollte es kaum glauben, es ist Herr Guizot, welcher über jene graziösen und mutwilligsten Luftgebilde der modernen Muse das Beste geschrieben hat, und zur Verwunderung und Belehrung des Lesers übersetze ich hier eine Stelle aus einer Schrift, die im Jahr 1822 bei Ladvocat in Paris erschienen und „De Shakespeare et de la poésie dramatique, par F. Guizot“ betitelt ist.

„Jene Shakespeareschen Komödien gleichen weder der Komödie des Molière noch des Aristophanes oder der Römer. Bei den Griechen, und in der neuern Zeit bei den Franzosen, entstand die Komödie durch eine zwar freie, aber aufmerksame Beobachtung des wirklichen Weltlebens, und die Darstellung desselben auf der Bühne war ihre Aufgabe. Die Unterscheidung einer komischen und einer tragischen Gattung findet man schon im Beginn der Kunst, und mit der Ausbildung derselben hat sich die Trennung beider Gattungen immer bestimmter ausgesprochen. Sie trägt ihren Grund in den Dingen selbst. Die Bestimmung wie die Natur des Menschen, seine Leidenschäften und seine Geschäfte, der Charakter und die Ereignisse, alles in uns und um uns hat sowohl seine ernsthafte wie spaßhafte Seite und kann sowohl unter dem einen wie dem andern Gesichtspunkte betrachtet und dargestellt werden. Diese Zweiseitigkeit des Menschen und der Welt hat der dramatischen Poesie zwei natürlichermaßen verschiedene Bahnen angewiesen; aber während sie die eine oder die andere zu ihrem Tummelplatz erwählte, hat die Kunst sich dennoch nie von der Beobachtung und Darstellung der Wirklichkeit abgewendet. Mag Aristophanes mit unumschränkter Phantasiefreiheit die Laster und Torheiten der Athener geißeln; mag Molière die Gebrechen der Leichtgläubigkeit, des Geizes, der Eifersucht, der Pedanterei, der adligen Hoffart, der bürgerlichen Eitelkeit und der Tugend selbst durchhecheln; – was liegt daran, daß beide Dichter ganz verschiedene Gegenstände behandeln; – daß der eine das ganze Leben und das ganze Volk, der andere hingegen die Vorfälle des Privatlebens, das Innere der Familien und die Lächerlichkeiten des Individuums auf die Bühne gebracht hat: diese Verschiedenheit der komischen Stoffe ist eine Folge der Verschiedenheit der Zeit, des Ortes und der Zivilisation … Aber dem Aristophanes wie dem Molière dient die Realität, die wirkliche Welt, immer als Boden ihrer Darstellungen. Es sind die Sitten und die Ideen ihres Jahrhunderts, die Laster und Torheiten ihrer Mitbürger, überhaupt, es ist die Natur und das Leben der Menschen, was ihre poetische Laune entzündet und erhält. Die Komödie entspringt daher aus der Welt, welche den Poeten umgibt, und sie schmiegt sich, noch viel enger als die Tragödie, an die äußeren Tatsachen der Wirklichkeit …

Nicht so bei Shakespeare. Zu seiner Zeit hatte in England der Stoff der dramatischen Kunst, Natur und Menschengeschick, noch nicht von den Händen der Kunst jene Unterscheidung und Klassifikation empfangen. Wenn der Dichter diesen Stoff für die Bühne bearbeiten wollte, so nahm er ihn in seiner Ganzheit, mit allen seinen Beimischungen, mit allen Kontrasten, die sich darin begegneten, und der Geschmack des Publikums geriet keineswegs in Versuchung, sich über solches Verfahren zu beklagen. Das Komische, dieser Teil der menschlichen Wirklichkeit, durfte sich überall hinstellen, wo die Wahrheit seine Gegenwart verlangte oder duldete; und es war ganz im Charakter jener englischen Zivilisation, daß die Tragödie, indem man ihr solchermaßen das Komische beigesellte, keineswegs ihre Wahrheitswürde einbüßte. Bei solchem Zustand der Bühne und solcher Neigung des Publikums, was konnte sich da als die eigentliche Komödie darbieten? Wie konnte letztere als besondere Gattung gelten und ihren bestimmten Namen Komödie führen? Es gelang ihr, indem sie sich von jenen Realitäten lossagte, wo ja doch die Grenzen ihres natürlichen Gebietes weder geschützt noch anerkannt wurden. Diese Komödie beschränkte sich nicht mehr auf die Darstellung bestimmter Sitten und durchgeführter Charaktere; sie suchte nicht mehr die Dinge und die Menschen unter einer zwar lächerlichen, aber wahren Gestalt zu schildern, sondern sie ward ein phantastisches und romantisches Geisteswerk, ein Zufluchtsort für alle jene ergötzlichen Unwahrscheinlichkeiten, welche die Phantasie, aus Trägheit oder Laune, nur an einem dünnen Faden zusammenreiht, um daraus allerlei bunte Verknüpfungen zu bilden, die uns erheitern und interessieren, ohne eben dem Urteil der Vernunft standzuhalten. Anmutige Gemälde, Überraschungen, heitere Intrigen, gereizte Neugier, getäuschte Erwartungen, Verwechslungen, witzige Aufgaben, welche Verkleidungen herbeiführen, das ward der Stoff jener harmlosen, leicht zusammengewürfelten Spiele. Die Kontextur der spanischen Stücke, woran man in England Geschmack zu finden begann, lieferte diesen Spielen allerlei verschiedene Rahmen und Muster, die sich auch sehr gut anpassen ließen auf jene Chroniken und Balladen, auf jene französischen und italienischen Novellen, welche, nebst den Ritterromanen, eine Lieblingslektüre des Publikums waren. Es ist begreiflich, wie diese reiche Fundgrube und diese leichte Gattung die Aufmerksamkeit Shakespeares schon frühe auf sich zog! Man darf sich nicht wundern, daß seine junge und glänzende Einbildungskraft sich gern in jenen Stoffen wiegte, wo sie, des strengen Vernunftjoches bar, auf Kosten der Wahrscheinlichkeit alle möglichen ernste und starke Effekte bereiten konnte! Dieser Dichter, dessen Geist und Hand mit gleicher Rastlosigkeit sich bewegten, dessen Manuskripte fast keine Spur von Verbesserungen enthielten, er mußte sich gewiß mit besonderer Lust jenen ungezügelten und abenteuerlichen Spielen hingeben, worin er ohne Anstrengung alle seine verschiedenartigen Fähigkeiten entfalten durfte. Er konnte alles in seine Komödien hineinschütten, und in der Tat! er goß alles hinein, ausgenommen, was mit einem solchen Systeme ganz unverträglich war, nämlich jene logische Verknüpfung, welche jeden Teil des Stückes dem Zwecke des Ganzen unterordnet und in jeder Einzelheit die Tiefe, Größe und Einheit des Werks bekundet. In den Tragödien des Shakespeare findet man schwerlich irgendeine Konzeption, eine Situation, einen Akt der Leidenschaft, einen Grad des Lasters oder der Tugend, welchen man nicht ebenfalls in einer seiner Komödien wiederfände; aber was sich dort in die abgründlichste Tiefe erstreckt, was sich fruchtbar an erschütternden Folgerungen erweist, was sich streng in eine Reihe von Ursachen und Wirkungen einfügt, das ist hier kaum angedeutet, nur für einen Augenblick hingeworfen, um einen flüchtigen Effekt zu erzielen und sich ebenso schnell in einer neuen Verknüpfung zu verlieren.“

In der Tat, der Elefant hat recht: Das Wesen der Shakespeareschen Komödie besteht in der bunten Schmetterlingslaune, womit sie von Blume zu Blume dahingaukelt, selten den Boden der Wirklichkeit berührend. Nur im Gegensatz zu der realistischen Komödie der Alten und der Franzosen läßt sich von der Shakespeareschen Komödie etwas Bestimmtes aussagen.

Ich habe vorige Nacht lange darüber nachgegrübelt, ob ich nicht dennoch von dieser unendlichen und unbegrenzten Gattung, von der Komödie des Shakespeare, eine positive Erklärung geben könnte. Nach langem Hin- und Hersinnen schlief ich endlich ein, und mir träumte, es sei sternhelle Nacht, und ich schwämme in einem kleinen Kahn, auf einem weiten, weiten See, wo allerlei Barken, angefüllt mit Masken, Musikanten und Fackeln, tönend und glänzend, manchmal nah, manchmal ferne, an mir vorbeifuhren. Das waren Kostüme aus allen Zeiten und Landen: altgriechische Tuniken, mittelalterliche Rittermäntel, orientalische Turbane, Schäferhüte mit flatternden Bändern, wilde und zahme Tierlarven … Zuweilen nickte mir eine wohlbekannte Gestalt … Zuweilen grüßten vertraute Weisen … Aber das zog immer schnell vorüber, und lauschte ich eben den Tönen der freudigen Melodie, die mir aus einer dahingleitenden Barke entgegenjubelten, so verhallten sie bald, und anstatt der lustigen Fiedeln erseufzten neben mir die melancholischen Waldhörner einer anderen Barke … Manchmal trug der Nachtwind beides zu gleicher Zeit an mein Ohr, und da bildeten diese gemischten Töne eine selige Harmonie … Die Wasser erklangen von unerhörtem Wohllaut und brannten im magischen Widerschein der Fackeln, und die buntbewimpelten Lustschiffe, mit ihrer abenteuerlichen Maskenwelt, schwammen in Licht und Musik … Eine anmutige Frauengestalt, die am Steuer einer jener Barken stand, rief mir im Vorbeifahren: „Nicht wahr, mein Freund, du hättest gern eine Definition von der Shakespeareschen Komödie?“ Ich weiß nicht, ob ich es bejahte, aber das schöne Weib hatte zu gleicher Zeit ihre Hand ins Wasser getaucht und mir die klingenden Funken ins Gesicht gespritzt, so daß ein allgemeines Gelächter erscholl und ich davon erwachte.

Wer war jene anmutige Frauengestalt, die mich solchermaßen im Traume neckte? Auf ihrem idealisch schönen Haupte saß eine buntscheckige gehörnte Schellenkappe, ein weißes Atlaskleid mit flatternden Bändern umschloß die fast allzu schlanken Glieder, und vor der Brust trug sie eine rotblühende Distel. Es war vielleicht die Göttin der Kaprice, jene sonderbare Muse, die bei der Geburt Rosalindens, Beatrices, Titanias, Violas, und wie sie sonst heißen, die lieblichen Kinder der Shakespeareschen Komödie, zugegen war und ihnen die Stirne küßte. Sie hat wohl alle ihre Launen und Grillen und Schrullen in die jungen Köpfchen hineingeküßt, und das wirkte auch auf die Herzen. Wie bei den Männern, so auch bei den Weibern in der Shakespeareschen Komödie ist die Leidenschaft ganz ohne jenen furchtbaren Ernst, ganz ohne jene fatalistische Notwendigkeit, womit sie sich in den Tragödien offenbart. Amor trägt dort zwar ebenfalls eine Binde und einen Köcher mit Pfeilen. Aber diese Pfeile sind dort weniger tödlich zugespitzt als buntbefiedert, und der kleine Gott schielt manchmal schalkhaft über die Binde hinweg. Auch die Flammen brennen dort weniger, als sie leuchten, aber Flammen sind es immer, und wie in den Tragödien des Shakespeare, so auch in seinen Komödien trägt die Liebe ganz den Charakter der Wahrheit. Ja, Wahrheit ist immer das Kennzeichen Shakespearescher Liebe, gleichviel, in welcher Gestalt sie erscheint, sie mag sich Miranda nennen oder Julia oder gar Cleopatra.

Indem ich diese Namen eher zufällig als absichtlich zusammen erwähne, bietet sich mir die Bemerkung, daß sie auch die drei bedeutungsvollsten Typen der Liebe bezeichnen. Miranda ist die Repräsentantin einer Liebe, welche, ohne historische Einflüsse, als Blume eines unbefleckten Bodens, den nur Geisterfüße betreten durften, ihre höchste Idealität entfalten konnte. Ariels Melodien haben ihr Herz gebildet, und die Sinnlichkeit erschien ihr nie anders als in der abschreckend häßlichen Gestalt eines Kaliban. Die Liebe, welche Ferdinand in ihr erregt, ist daher nicht eigentlich naiv, sondern von seliger Treuherzigkeit, von urweltlicher, fast schauerlicher Reinheit. Julias Liebe trägt, wie ihre Zeit und Umgebung, einen mehr romantisch mittelalterlichen, schon der Renaissance entgegenblühenden Charakter; sie ist farbenglänzend wie der Hof der Scalière und zugleich stark wie jene edlen Geschlechter der Lombardei, die mit germanischem Blute verjüngt worden und ebenso kräftig liebten, wie sie haßten. Julia repräsentiert die Liebe einer jugendlichen, noch etwas rohen, aber unverdorbenen, gesunden Periode. Sie ist ganz durchdrungen von der Sinnenglut und von der Glaubensstärke einer solchen Zeit, und selbst der kalte Moder der Totengruft kann weder ihr Vertrauen erschüttern noch ihre Flamme dämpfen. Unsere Cleopatra, ach! sie repräsentiert die Liebe einer schon erkrankten Zivilisation, einer Zeit, deren Schönheit schon abwelkt, deren Locken zwar mit allen Künsten gekräuselt, mit allen Wohldüften gesalbt, aber auch mit manchem grauen Haar durchflochten sind, einer Zeit, die den Kelch, der zur Neige geht, um so hastiger leeren will. Diese Liebe ist ohne Glaube und ohne Treue, aber darum nicht minder wild und glühend. Im ärgerlichen Bewußtsein, daß diese Glut nicht zu dämpfen ist, gießt das ungeduldige Weib noch Öl hinein und stürzt sich bacchantisch in die lodernden Flammen. Sie ist feige und dennoch getrieben von eigner Zerstörungslust. Die Liebe ist immer eine Art Wahnsinn, mehr oder minder schön; aber bei dieser ägyptischen Königin steigert sie sich zur greulichsten Tollheit … Diese Liebe ist ein rasender Komet, der mit seinem Flammenschweif, in den unerhörtesten Kreisläufen, am Himmel dahinstürmt, alle Sterne auf seinem Wege erschreckt, wo nicht gar beschädigt, und endlich, kläglich zusammenkrachend, wie eine Rakete in tausend Funken zerstiebt.

Ja, du glichest einem furchtbaren Komete, schöne Cleopatra, und du glühtest nicht bloß zu deinem eignen Verderben, sondern du bedeutetest auch Unglück für deine Zeitgenossen … Mit Antonius nimmt auch das alte heroische Römertum ein jämmerliches Ende.

Womit soll ich aber euch vergleichen, Julia und Miranda? Ich schaue wieder nach dem Himmel und suche dort euer Ebenbild. Es befindet sich vielleicht hinter den Sternen, wo mein Blick nicht hindringt. Vielleicht, wenn die glühende Sonne auch die Milde des Mondes besäße, ich könnte dich mit ihr vergleichen, Julia! Wäre der milde Mond zugleich begabt mit der Glut der Sonne, ich würde dich damit vergleichen, Miranda!