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III.

〈Psychoanalytische Kongresse, Vereinigungen und Publikationen. Abspaltung von Adler und Jung〉

Mach es kurz! Am Jüngsten Tag ist’s nur ein Furz.

Goethe

Zwei Jahre nach dem ersten fand der zweite Privatkongreß der Psychoanalytiker, diesmal in Nürnberg, statt (März 1910). In der Zwischenzeit hatte sich bei mir, unter dem Eindruck der Aufnahme in Amerika, der steigenden Anfeindung in den deutschen Ländern und der ungeahnten Verstärkung durch den Zuzug der Züricher, eine Absicht gebildet, die ich mit Beihilfe meines Freundes S. Ferenczi auf jenem zweiten Kongreß zur Ausführung brachte. Ich gedachte, die psychoanalytische Bewegung zu organisieren, ihren Mittelpunkt nach Zürich zu verlegen und ihr ein Oberhaupt zu geben, welches ihre Zukunft in acht nehmen sollte. Da diese meine Gründung viel Widerspruch unter den Anhängern der Analyse gefunden hat, will ich meine Motive ausführlicher darlegen. Ich hoffe dann gerechtfertigt zu sein, auch wenn sich herausstellen sollte, daß ich wirklich nichts Kluges getan habe.

Ich urteilte, daß der Zusammenhang mit Wien keine Empfehlung, sondern ein Hemmnis für die junge Bewegung wäre. Ein Ort wie Zürich, im Herzen von Europa, an welchem der akademische Lehrer sein Institut der Psychoanalyse geöffnet hatte, erschien mir weit aussichtsvoller. Ich nahm ferner an, ein zweites Hindernis sei meine Person, deren Schätzung allzusehr durch der Parteien Gunst und Haß verwirrt wurde; man verglich mich entweder mit Kolumbus, Darwin und Kepler oder schimpfte mich einen Paralytiker. Ich wollte also mich ebenso in den Hintergrund rücken wie die Stadt, von der die Psychoanalyse ausgegangen war. Auch war ich nicht mehr jugendlich, sah einen langen Weg vor mir und empfand es als drückend, daß mir in so späten Jahren die Verpflichtung, Führer zu sein, zugefallen war. Ein Oberhaupt, meinte ich aber, müsse es geben. Ich wußte zu genau, welche Irrtümer auf jeden lauerten, der die Beschäftigung mit der Analyse unternahm, und hoffte, man könnte viele derselben ersparen, wenn man eine Autorität aufrichtete, die zur Unterweisung und Abmahnung bereit sei. Eine solche Autorität war zunächst mir zugefallen infolge des uneinbringlichen Vorsprunges einer etwa 15jährigen Erfahrung. Es lag mir also daran, diese Autorität auf einen jüngeren Mann zu übertragen, der nach meinem Ausscheiden wie selbstverständlich mein Ersatz werden sollte. Dies konnte nur C. G. Jung sein, denn Bleuler war mein Altersgenosse, für Jung sprachen aber seine hervorragende Begabung, die Beiträge zur Analyse, die er bereits geleistet hatte, seine unabhängige Stellung und der Eindruck von sicherer Energie, den sein Wesen machte. Er schien überdies bereit, in freundschaftliche Beziehungen zu mir zu treten und mir zuliebe Rassenvorurteile aufzugeben, die er sich bis dahin gestattet hatte. Ich ahnte damals nicht, daß diese Wahl trotz aller aufgezählten Vorzüge eine sehr unglückliche war, daß sie eine Person getroffen hatte, welche, unfähig, die Autorität eines anderen zu ertragen, noch weniger geeignet war, selbst eine Autorität zu bilden, und deren Energie in der rücksichtslosen Verfolgung der eigenen Interessen aufging.

Die Form einer offiziellen Vereinigung hielt ich für notwendig, weil ich den Mißbrauch fürchtete, welcher sich der Psychoanalyse bemächtigen würde, sobald sie einmal in die Popularität geriete. Es sollte dann eine Stelle geben, welcher die Erklärung zustände: Mit all dem Unsinn hat die Analyse nichts zu tun, das ist nicht die Psychoanalyse. In den Sitzungen der Ortsgruppen, aus denen sich die internationale Vereinigung zusammensetzte, sollte gelehrt werden, wie die Psychoanalyse zu betreiben sei, und sollten Ärzte ihre Ausbildung finden, für deren Tätigkeit eine Art von Garantie geleistet werden konnte. Auch schien es mir wünschenswert, daß sich die Anhänger der Psychoanalyse zum freundschaftlichen Verkehr und zur gegenseitigen Unterstützung zusammenfänden, nachdem die offizielle Wissenschaft den großen Bann über sie ausgesprochen und den Boykott über die Ärzte und Anstalten verhängt hatte, die sie übten.

Dies alles und nichts anderes wollte ich durch die Gründung der „Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung“ erreichen. Es war wahrscheinlich mehr, als zu erreichen möglich war. Wie meine Gegner die Erfahrung machen mußten, daß es nicht möglich sei, die neue Bewegung aufzuhalten, so stand mir die Erfahrung bevor, daß sie sich auch nicht auf die Wege leiten lasse, die ich ihr anweisen wollte. Der von Ferenczi in Nürnberg vorgelegte Antrag wurde zwar angenommen, Jung zum Präsidenten gewählt, der Riklin zu seinem Sekretär machte, es wurde auch die Herausgabe eines Korrespondenzblattes beschlossen, durch welches die Zentrale mit den Ortsgruppen verkehrte. Als Zweck der Vereinigung wurde erklärt: „Pflege und Förderung der von Freud begründeten psychoanalytischen Wissenschaft sowohl als reiner Psychologie als auch in ihrer Anwendung in der Medizin und den Geisteswissenschaften; gegenseitige Unterstützung der Mitglieder in allen Bestrebungen zum Erwerben und Verbreiten von psychoanalytischen Kenntnissen.“ Allein von Seiten der Wiener war dem Projekt lebhaft opponiert worden. Adler sprach in leidenschaftlicher Erregung die Befürchtung aus, daß eine „Zensur und Einschränkung der wissenschaftlichen Freiheit“ beabsichtigt sei. Die Wiener fügten sich dann, nachdem sie durchgesetzt hatten, daß nicht Zürich zum Sitz der Vereinigung erhoben wurde, sondern der Wohnort des jeweiligen, auf zwei Jahre gewählten Präsidenten.

Auf dem Kongreß selbst konstituierten sich drei Ortsgruppen, die in Berlin unter dem Vorsitz von Abraham, die in Zürich, die ihren Obmann an die Zentralleitung der Vereinigung abgegeben hatte, und die Wiener Gruppe, deren Leitung ich Adler überließ. Eine vierte Gruppe, die in Budapest, konnte sich erst später herstellen. Bleuler war, durch Krankheit verhindert, vom Kongreß ferngeblieben, er zeigte dann später prinzipielle Bedenken gegen den Eintritt in den Verein, ließ sich zwar durch mich nach einer persönlichen Aussprache dazu bestimmen, war aber kurze Zeit nachher infolge von Mißhelligkeiten in Zürich wieder außerhalb. Die Verbindung zwischen der Züricher Ortsgruppe und der Anstalt Burghölzli war damit aufgehoben.

Eine Folge des Nürnberger Kongresses war auch die Gründung des „Zentralblattes für Psychoanalyse“, zu welcher sich Adler und Stekel vereinigten. Es hatte offenbar ursprünglich eine oppositionelle Tendenz und sollte Wien die durch die Wahl Jungs bedrohte Hegemonie zurückgewinnen. Als aber die beiden Unternehmer des Blattes unter dem Drucke der Schwierigkeit, einen Verleger zu finden, mich ihrer friedlichen Absichten versicherten und mir als Unterpfand ihrer Gesinnung ein Vetorecht einräumten, nahm ich die Herausgeberschaft an und beteiligte mich eifrig an dem neuen Organ, dessen erste Nummer im September 1910 erschien.

Ich setze die Geschichte der psychoanalytischen Kongresse fort. Der dritte Kongreß fand im September 1911 zu Weimar statt und übertraf noch seine Vorgänger an Stimmung und wissenschaftlichem Interesse. J. Putnam, der dieser Versammlung beigewohnt hatte, äußerte dann in Amerika sein Wohlgefallen und seinen Respekt vor the mental attitude der Teilnehmer und zitierte ein Wort von mir, das ich in bezug auf diese letzteren gebraucht haben soll: „Sie haben gelernt, ein Stück Wahrheit zu ertragen.“1 In der Tat mußte jedem, der wissenschaftliche Kongresse besucht hatte, ein Eindruck zugunsten der Psychoanalytischen Vereinigung verbleiben. Ich hatte die beiden früheren Kongresse selbst geleitet, jedem Vortragenden Zeit für seine Mitteilung gelassen und die Diskussion darüber auf den privaten Gedankenaustausch gewiesen. Jung, der in Weimar als Präsident die Leitung übernahm, setzte die Diskussion nach jedem Vortrage wieder ein, was sich aber damals noch nicht störend erwies.

Ein ganz anderes Bild bot der vierte Kongreß zu München zwei Jahre später, im September 1913, der allen Teilnehmern noch in frischer Erinnerung ist. Er wurde von Jung in unliebenswürdiger und inkorrekter Weise geleitet, die Vortragenden waren in der Zeit beschränkt, die Diskussionen überwucherten die Vorträge. Der böse Geist Hoche hatte infolge einer boshaften Laune des Zufalls seinen Wohnsitz in demselben Hause aufgeschlagen, in welchem die Analytiker ihre Sitzungen abhielten. Hoche hätte sich ohne Mühe überzeugen können, wie sie seine Charakteristik einer fanatischen Sekte, welche ihrem Oberhaupte blind ergeben folgt, ad absurdum führten. Die ermüdenden und unerquicklichen Verhandlungen brachten auch die Wiederwahl Jungs zum Präsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, welche Jung annahm, wiewohl zwei Fünftel der Anwesenden ihm ihr Vertrauen verweigerten. Man schied voneinander ohne das Bedürfnis, sich wiederzusehen.

Der Besitzstand der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung war um die Zeit dieses Kongresses der folgende: Die Ortsgruppen Wien, Berlin, Zürich hatten sich schon auf dem Kongreß in Nürnberg 1910 konstituiert. Im Mai 1911 kam eine Gruppe in München unter dem Vorsitz von Dr. L. Seif hinzu. In demselben Jahre bildete sich die erste amerikanische Ortsgruppe unter dem Namen „The New York Psychoanalytic Society“ unter dem Vorsitze von A. Brill. Auf dem Weimarer Kongreß wurde die Gründung einer zweiten amerikanischen Gruppe genehmigt, die im Laufe des nächsten Jahres als „American Psychoanalytic Association“ ins Leben trat, Mitglieder aus Kanada und ganz Amerika umfaßte und Putnam zu ihrem Präsidenten, E. Jones zum Sekretär wählte. Kurz vor dem Kongreß in München 1913 wurde die Budapester Ortsgruppe unter dem Vorsitze von S. Ferenczi aktiviert. Bald nach demselben gründete der nach London übersiedelte E. Jones dort die erste englische Gruppe. Die Mitgliederzahl der nun vorhandenen acht Ortsgruppen gibt natürlich keinen Maßstab für die Beurteilung der Anzahl der nicht organisierten Schüler und Anhänger der Psychoanalyse.

Auch die Entwicklung der periodischen Literatur der Psychoanalyse verdient eine kurze Erwähnung. Die erste periodische Publikation, welche der Analyse diente, waren die „Schriften zur angewandten Seelenkunde“, die in zwangloser Folge seit 1907 erscheinen und gegenwärtig beim fünfzehnten Heft angelangt sind. (Verleger zuerst H. Heller in Wien, dann F. Deuticke.) Sie haben Arbeiten gebracht von Freud (1 und 7), Riklin, Jung, Abraham (4 und 11), Rank (5 und 13), Sadger, Pfister, M. Graf, Jones (10 und 14), Storfer und v. Hug-Hellmuth.2 Die später zu erwähnende Gründung der Imago hat den Wert dieser Publikationsform einigermaßen herabgesetzt. Nach der Zusammenkunft in Salzburg 1908 wurde das „Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen“ ins Leben gerufen, welches unter der Redaktion von Jung fünf Jahrgänge erlebt hat und nun unter neuer Leitung und etwas verändertem Titel als „Jahrbuch der Psychoanalyse“ von neuem an die Öffentlichkeit herantritt. Es will auch nicht mehr wie in den letzten Jahren ein Archiv sein, welches einschlägige Arbeiten sammelt, sondern seiner Aufgabe durch redaktionelle Tätigkeit gerecht werden, welche alle Vorgänge und alle Erwerbungen auf dem Gebiete der Psychoanalyse zu würdigen versucht.3 Das „Zentralblatt für Psychoanalyse“, wie erwähnt von Adler und Stekel nach der Gründung des Internationalen Vereines (Nürnberg 1910) entworfen, hat in kurzer Zeit bewegte Schicksale durchgemacht. Schon die zehnte Nummer des ersten Bandes bringt an ihrer Spitze die Nachricht, daß sich Dr. Alfred Adler wegen wissenschaftlicher Differenzen mit dem Herausgeber entschlossen hat, freiwillig aus der Redaktion auszuscheiden. Dr. Stekel blieb von da an alleiniger Redakteur (Sommer 1911). Auf dem Kongreß zu Weimar wurde das Zentralblatt zum offiziellen Organ des Internationalen Vereines erhoben und allen Mitgliedern gegen Erhöhung ihrer Jahresbeiträge zugänglich gemacht. Von der dritten Nummer des zweiten Jahrganges an (Winter 1912) ist Stekel für den Inhalt des Blattes allein verantwortlich geworden. Sein in der Öffentlichkeit schwer darstellbares Verhalten hatte mich genötigt, die Herausgeberschaft niederzulegen und der Psychoanalyse in aller Eile ein neues Organ in der „Internationalen Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse“ zu schaffen. Unter Mithilfe fast aller Mitarbeiter und des neuen Verlegers H. Heller konnte das erste Heft dieser Zeitschrift im Januar 1913 erscheinen und sich als offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung an die Stelle des Zentralblattes setzen.

Inzwischen war mit Anfang 1912 von Dr. Hanns Sachs und Dr. Otto Rank eine neue Zeitschrift „Imago“ (Verlag von Heller) geschaffen worden, welche ausschließlich für die Anwendungen der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften bestimmt wurde. „Imago“ befindet sich gegenwärtig in der Mitte ihres dritten Jahrganges und erfreut sich des steigenden Interesses auch solcher Leser, welche der ärztlichen Analyse fernstehen.4

Von diesen vier periodischen Publikationen („Schriften zur angewandten Seelenkunde“, „Jahrbuch“, „Internationale Zeitschrift“ und „Imago“) abgesehen, bringen auch andere deutsche und fremdsprachige Journale Arbeiten, welche in der Literatur der Psychoanalyse eine Stelle beanspruchen können. Das von Morton Prince herausgegebene „Journal of Abnormal Psychology enthält in der Regel so viele gute analytische Beiträge, daß es als Hauptvertretung der analytischen Literatur in Amerika eingeschätzt werden muß. Im Winter 1913 haben White und Jelliffe in New York eine neue, ausschließlich der Psychoanalyse gewidmete Zeitschrift („The Psychoanalytic Review“)* ins Leben gerufen, welche wohl mit der Tatsache rechnet, daß den meisten der an der Analyse interessierten Ärzte Amerikas die deutsche Sprache eine Erschwerung ist.5


  1. On Freud’s Psychoanalytic Method and its Evolution, Boston Medical and Surgical Journal, 25. Jan. 1912.
  2. Später sind noch erschienen: Sadger (16 und 18), Kielholz (17).
  3. Mit Kriegsbeginn eingestellt.
  4. Diese beiden Zeitschriften sind 1919 in den Internationalen Psychoanalytischen Verlag übergegangen und befinden sich derzeit (1923) im 9. Jahrgang. (Eigentlich befindet sich die „Internationale Zeitschrift“ in ihrem 11., die „Imago“ im 12. Lebensjahr; zufolge der Kriegsverhältnisse umfaßte jedoch der IV. Bd. der „Zeitschrift“ mehr als ein Jahr, d. h. die Jahre 1916-1918, der V. Bd. der „Imago“ die Jahre 1917-1918.) Im Titel der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“ entfiel mit Beginn des VI. Bandes die Bezeichnung „ärztlich“.
  5. 1920 hat E. Jones die Gründung des für England und Amerika bestimmten „International Journal of Psycho-Analysis“ unternommen.